Verlockt, verwöhnt, verbunden: Mit dieser Preispolitik erobern Verlage die Herzen ihrer Kunden

Wer viel unterwegs ist, hat sich längst daran gewöhnt, dass Preise nicht nur von der Qualität des Produkts abhängen: Airlines verkaufen ihre Tickets je nach Nachfrage, bei Booking.com zahlen Smartphone-Nutzer und loyale Kunden günstigere Raten für Hotelzimmer, an der Tankstelle steht manchmal ein anderer Liter-Preis an der Zapfsäule als der, den man noch vor ein paar Minuten an der Einfahrt gesehen hatte. Und womöglich wird zukünftig auch die Kneipe zu einer Art Bier-Börse: „The rise of surge pricing: It will eventually be everywhere“, betitelte die Financial Times kürzlich eine größere Recherche, nachdem eine britische Pub-Kette angekündigt hatte, zu Stoßzeiten mehr fürs Bier zu verlangen. 

In der Medienbranche halten sich die flexiblen Preismodelle noch in Grenzen, aber es gibt sie: Die New York Times verlangt für das Abo in Europa deutlich weniger als auf dem Heimatmarkt. Andere Marken wie der zur schwedischen Bonnier-Gruppe gehörende Dagens Nyheter arbeiten mit dynamischen Bezahlschranken, die hochgezogen werden, sobald ein Text häufig und ausführlich gelesen und geteilt wird, die Nutzer ihn also als besonders attraktiv bewerten. Außerdem scheinen Abos zuweilen Verhandlungssache zu sein. Nic Newman und Craig Robertson vom Reuters Institute in Oxford bezeichnen es als eines der erstaunlichsten Erkenntnisse einer auf Deutschland, die USA und Großbritannien fokussierten Studie, welche Bandbreite an Abo-Preisen verschiedene Nutzer für ein und dasselbe Produkt zu zahlen scheinen. Die Untersuchung Paying for News: Price-Conscious Consumers Look for Value amid Cost-of-Living Crisis erschien im September 2023.

Flexible Preise sind kein „No Go“ mehr

Flexible Preise galten lange als „No-Go“. Aber womöglich ist es nur fair, dass diejenigen mehr für ein Produkt zahlen, denen es mehr bedeutet. Angesichts der rasant wachsenden Möglichkeiten künstlicher Intelligenz ist es absehbar, dass sich in verschiedensten Branchen Preismodelle durchsetzen werden, die berücksichtigen, wann, wie häufig, wie intensiv und von welchem Endgerät aus ein Nutzer auf bestimmte Produkte und Dienstleistungen zugreift. Verlage sind also gut beraten, schon jetzt mit Kreativität an die Sache zu gehen. Denn zwischen Paywall, Mitgliedschaften und dem unbegrenzt kostenlosen Zugriff gibt es noch eine Reihe von flexiblen Möglichkeiten. Wichtig ist allerdings, dass man sich über seine Strategie und Zielgruppen im Klaren ist – und die darf man getrost differenzieren.

Die New York Times zum Beispiel wird für die wenigsten Menschen in Übersee beim Abo-Abschluss erste Wahl sein, anders als in ihrem Kernverbreitungsgebiet rund um New York City. Es ist nur logisch, dass der Verlag nicht allen Kunden den gleichen Preis anbietet. Der Guardian verzichtet ganz auf Bezahl-Zwang, weil sich die Geschäftsführung darauf verlassen kann, dass ein beträchtlicher Teil des politisch eher links engagierten Publikums aus moralischer Verpflichtung freiwillig für den Journalismus zahlt und ihn auch anderen zugänglich machen möchte. Fast nirgendwo anders funktioniert dieses Modell so gut wie dort.  

Eine vielversprechende Mischform ist der Text zum Verschenken. Schon jetzt erlauben viele Medienmarken ihren Abonnenten, Beiträge mit einer begrenzten Anzahl von Nutzern zu teilen. Für das dänische Journalismus-Portal Zetland ist das ein Erfolgsprinzip: Abonnenten dürfen Geschichten unbegrenzt oft verschenken. „Journalismus funktioniert als Gespräch“, sagt Zetland-CEO Tav Klitgaard. Das 2016 gegründete, strikt auf konstruktiven Journalismus fokussierte Medienunternehmen generiert auf diese Weise Leser-Einnahmen und Reichweite gleichermaßen, und es scheint sich auszuzahlen. Seit 2019 ist Zetland profitabel und hat mittlerweile 40.000 zahlende Kunden, die pro Monat im Schnitt 17 Euro hinlegen. Ein Drittel davon ist jünger als 33 Jahre. Die Gründer führen dies natürlich nicht nur auf das Geschenk-Konzept zurück, sondern auf die  journalistische Qualität und ein stark auf Audio ausgelegtes Angebot.  

Auch das kulturelle Umfeld ist für die Preisgestaltung relevant

Wer an Preis- und Geschäftsmodellen arbeitet, sollte sich aber nicht nur mit seinen Produkten und Nutzern, sondern auch mit dem kulturellen Umfeld beschäftigen. US-Amerikaner zum Beispiel sind das Spenden gewöhnt, sie tun es in den vielfältigsten Zusammenhängen gerne und reichhaltig. In Deutschland, wo man Wohltätigkeit vor allem vom Staat erwartet, weil man ohnehin kräftig Steuern zahlt, ist die Spender-Kultur weniger ausgeprägt. Preise und Leistung werden genauer abgeglichen. Wer hier auf Mitgliedsmodelle setzt, muss mindestens eine gute Story bieten.

Für alle Kulturräume gilt: Verlage, die allzu starr an ihren Bezahlmodellen festhalten, machen es sich unnötig schwer. Viele Medienhäuser erleben, dass eine harte Paywall das Wachstum irgendwann versiegen lässt, weil ein Grund-Potenzial ausgeschöpft ist. Die NOZ-Gruppe experimentiert deshalb neuerdings mit flexibleren Modellen, um unterschiedliche Nutzerbedürfnisse besser abzuschöpfen – die Bezahlschranken variieren je nach Themenfeld und Angebot. Als Grundregel lässt sich feststellen: Themen und Formate, die es auch anderswo gibt, sollten eher frei zugänglich sein. Bei Marken mit Alleinstellungsmerkmal  können sich höhere Barrieren lohnen. Mancher Inhalt lässt sich über Anzeigeneinnahmen besser monetarisieren. 

Wichtig ist auch, dass sich Abos schnell kündigen lassen. Vertriebsleuten alter Schule mag das Magenkrämpfte bereiten. Aber wer sich im Abo fühlt wie im Gefängnis, wird bei nächster Gelegenheit ausbrechen und nie wiederkommen. Es ist deutlich sinnvoller, Kunden jederzeit gehen zu lassen, ihnen aber immer wieder neue Angebote zu machen. Dabei darf man ihnen ruhig ein bisschen auf die Nerven gehen. KI wird dabei helfen, die richtigen Anreize zu setzen. 

Die Forscher des Reuters Institutes haben übrigens herausgefunden, dass es kaum Unterschiede zwischen den Altersgruppen gibt, was die Zahlungsbereitschaft für Journalismus angeht. Allerdings weichen die Preisvorstellungen voneinander ab – auf eine Weise, die für die Verlage eher ungünstig ist. Während für ältere Kunden das Zeitungsabo der Referenzrahmen sei, verglichen jüngere die Angebote mit den Kosten und Nutzen von Netflix und Spotify, sagt Autor Nic Newman. Ein E-Paper-Abo ist derzeit zwar das lukrativste digitale Medienprodukt, dessen Fans dürften aber mittelfristig weniger werden. 

Man kann nur jedem Verlagsverantwortlichen raten, offen an die Preisgestaltung heranzugehen. Während einige Nutzer strikt aufs Budget schauen und am liebsten penibel abrechnen möchten, mögen die anderen bereit sein, für eine Art Deutschland-Ticket für Journalismus tatsächlich 49 Euro zu zahlen. Und wenn man hier mal fantasieren darf: Vielleicht könnten sogar Öffentlich-Rechtliche und ein paar Verlage ihre Streitigkeiten beilegen und eine Flatrate für Qualitätsjournalismus entwickeln, eine Art aufgestockte Haushaltsabgabe, bei der man sich quer durch verschiedenste Angebote lesen und hören kann. Kern aller Modelle sollte es sein, gewohnheitsbildend zu wirken – auch wenn das nur mit Hilfe von Rätseln und Kochrezepten funktioniert. Im Sinne einer gut informierten, aufgeklärten Bevölkerung und Wählerschaft ist es wichtig, dass Menschen Interesse an Journalismus entwickeln und es durch verschiedenste Lebenslagen beibehalten. Dann werden sie auch immer mal wieder zahlen.                    

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. September 2023. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 

Warum Vertrauen in Medien als Messgröße wenig nützt

Zwischen der Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa und dem Reuters Institute in Oxford schwelt ein Konflikt, der für Medienschaffende Stoff zum Nachdenken enthält. Die weithin bewunderte philippinische Journalistin und Gründerin der Newssite Rappler wirft dem Institut vor, mit einem Teil seiner Forschung Journalistinnen und Journalisten in Ländern zu schaden, deren Regierungen aktiv daran arbeiten, das Vertrauen in Medien auszuhöhlen. Es geht um den Digital News Report, die weltweit größte fortlaufende Untersuchung zum Medienkonsum, dessen elfte Ausgabe im Juni erschienen ist. Die Umfrage listet Rappler wiederholt als eine derjenigen philippinischen Medienmarken, denen die Nutzer am wenigsten vertrauen. Ressa sagt, die Regierung verwende diese Daten gegen sie und ihre Kollegen. Aus Protest gegen die Methodik war Ressa bereits im vergangenen Jahr aus dem Beirat des Instituts zurückgetreten.

Vertrauen ist ein aufgeladener Begriff. Kaum eine große oder groß gemeinte Rede kommt ohne ihn aus. Das Vertrauen in Institutionen schwinde, heißt es dann mit leicht dramatisierender Intonierung, speziell jenes in Medien und in den Journalismus. Aber ist Vertrauen überhaupt eine nützliche Kategorie?

Im Fall Ressa gegen Reuters hatte Institutsleiter Rasmus Kleis Nielsen schon 2022 versucht, die Sache einzuordnen. Hier zeigten sich die Kosten von mutigem, aufklärerischem Journalismus, analysierte er in einem Artikel. Natürlich hätten Regierungen, die Stimmung gegen unabhängige Medien machten, stets bei einem Teil der Bevölkerung Erfolg. „Beim Medienvertrauen gehe es um mehr als Faktentreue und die Vertrauenswürdigkeit des journalistischen Outputs eines Unternehmens. Es geht auch darum, wie Menschen diese Arbeit im Licht der jeweiligen Politik und ihrer parteipolitischen Präferenzen interpretieren“, so Nielsen. Man könnte also sagen, viel Feind, wenig Ehr. Die Forschung des Instituts belegt schon lange, dass Medienvertrauen und das Vertrauen in die jeweilige Politik eines Landes eng verknüpft sind. Ärgern sich Menschen über Politiker und politische Institutionen, erstreckt sich ihre Wut auch häufig auf Journalisten. 

Um Vertrauen zu verstehen, muss man Misstrauen verstehen 

Weder Forschung noch Journalismus können also ohne Kontext verstanden werden. Das macht es kompliziert in einer Welt, in der Politiker, Chefredakteure, Wissenschaftler und auch die informierte Öffentlichkeit recht leichtfertig mit Kategorien wie Medienvertrauen, Qualitätsjournalismus, Filterblasen oder Fake News um sich werfen, oft aus dem – natürlich lobenswerten – Ansinnen heraus, sich für einen starken Journalismus zum Schutz der Demokratie einzusetzen. Tenor: alles geht bergab, nur heiße Luft und Lügen nehmen zu. Doch so einfach ist es nicht.

Um zum Beispiel Medienvertrauen zu verstehen, muss man Misstrauen verstehen. Tatsächlich gehört es zu den Kernmerkmalen der Demokratie, dass sie ihren Bürgern ein gewisses Maß an Skepsis nicht nur gestattet, sondern sogar abverlangt. Vertrauenswerte nahe der 100 Prozent sollten eher stutzig machen als begeistern. Tatsächlich predigen die Medien selbst es ihren Konsumenten immer wieder: Sei kritisch, skeptisch, hinterfrage. Dies prägt auch die vielfach geforderte digitale Bildung. Teenager und junge Erwachsene wurden und werden dazu erzogen, lieber einmal mehr zu googeln, als auf Spam, Phishing oder Lügengeschichten hereinzufallen. Wenn das Medienvertrauen in der Folge niedrig ist, hat der Journalismus so betrachtet eines seiner Ziele erreicht.

Dies wird sich mit dem Vordringen generativer KI noch verstärken. Schließlich weisen auch die Medien zurecht darauf hin, dass Bots wie Chat GPT manchmal halluzinieren und (noch) keinen Faktencheck können. Klar, die Medienmarken, die so etwas verbreiten, wollen damit auch sagen: Wenn ihr euch auf uns verlasst, seid ihr sicher. Aber sind die Nutzer es wirklich, wenn es gleichzeitig zunehmend heißen wird, dass dieses und jenes Produkt mit Hilfe von KI erstellt oder zumindest ergänzt und animiert wurde? Etwas Misstrauen ist da eine gute Strategie. 

Das heißt nicht, dass man Medienvertrauen nicht messen kann und sollte. Neben dem Digital News Report, dessen deutscher Teil vom Hans Bredow Institut erstellt wird, tun dies auch andere Untersuchungen wie zum Beispiel die Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz. Interessant an solchen Erhebungen sind vor allem die Zeitreihen und Nuancen, nicht so sehr die plakativen Aussagen („dramatischer Vertrauensverlust“), die es in Vorträge schaffen. Ein hoher Vertrauenswert kann schließlich vieles bedeuten. Er kann ein Indikator für journalistische Qualität und Markenstärke sein, leider aber auch zeigen, dass Propaganda wirkt, es an Medienvielfalt mangelt, oder dass Menschen schlecht gebildet und oder einfach naiv sind. 

Der schwammige Qualitätsbegriff

Ähnlich schwammig ist der Begriff Qualitätsmedien. Den nutzen vor allem jene gerne, die in Häusern arbeiten, die sie für etwas besser als den Rest halten. Sie verstehen das als Abgrenzung zum Boulevard. Früher galt, je mehr Bleiwüste, desto höher die (vermutete) Qualität. Das hat allerdings noch nie etwas darüber ausgesagt, wie viele Menschen diese Medien mit welcher Wirkung tatsächlich erreichen. Zudem enthalten auch Qualitätszeitungen durchaus schlechten Journalismus. In manchen Regionen der Welt wird „quality media“ sogar als Kampfbegriff verstanden. Gerne beschränkten Regierungen mit zweifelhaftem demokratischem Verständnis den Zugang zu Informationen auf „Qualitätsmedien“, die Klassifizierung werde somit ein Einfallstor für Zensur, argumentieren Vertreter entsprechender Länder. Im Europarat wäre die Eröffnungssitzung des Experten-Ausschusses „Quality journalism in the digital age“ 2018 fast daran gescheitert, dass sich manche Mitglieder auf den Begriff nicht einlassen wollten.

Journalisten sollten sich generell darüber bewusst sein, dass ihre eigene Berichterstattung viel dazu beiträgt, wie Menschen Risiken der digitalen Kommunikationswelt wahrnehmen. Begegnet den Nachrichten-Konsumenten in großer Frequenz der Begriff „Fake News“, werden sie solche auch eher wahrnehmen, als Problem definieren und sich in Umfragen entsprechend äußern. Auch die Filterblase ist ein gängiger Begriff geworden, obwohl es Belege dafür gibt, dass Mediennutzer heute mit mehr verschiedenen Quellen in Berührung kommen als früher. Reporter und Kommentatoren beeinflussen also mit ihren Warnungen die Forschung, über deren Ergebnisse sie dann erschrecken. 

Was wir daraus lernen können

Praktiker können daraus ein paar Dinge ableiten. Zunächst einmal sollten sie auf andere Indikatoren schauen als auf Vertrauensabfragen, wenn sie sich der Qualität ihrer Erzeugnisse vergewissern möchten. 

► Werden journalistische Angebote tatsächlich genutzt? Wie lange bleiben die Kunden dran? Wie oft kommen sie wieder und zahlen sie dafür? Hat Berichterstattung (politische) Konsequenzen? All das zeigt deutlich verlässlicher an, ob man seinen Job anständig macht. Der Bild zum Beispiel begegnen viele Menschen aus gutem Grund mit Misstrauen. Trotzdem bietet sie ihren Nutzern etwas, das diese woanders offenbar so nicht finden: zugespitzte, manchmal exklusive Informationen und einen gewissen Unterhaltungswert. Der Qualitätsmarke hingegen mögen sie vertrauen, sie aber trotzdem ignorieren. Vertrauen allein reicht nicht, der Gebrauchswert muss stimmen.  

► Außerdem sollten sich Journalisten ihre eigene Rolle in gewissen Aufregungsspiralen bewusst machen. Wer pöbelnden Politikern Reichweite verschafft, trägt dazu bei, dass der Ton rauer wird. Wer wochenlang in allen Facetten diskutiert, ob Aktionen von Klimaklebern gerechtfertigt sind, muss sich nicht wundern, wenn das Thema Klimaschutz polarisiert. Mit solchen Debatten zwingt man das Publikum in gegensätzliche Haltungen hinein, meist ohne ihnen wieder herauszuhelfen. In einer komplexen Welt ist die Aufgabe von Journalismus aber auch, Menschen bei der Suche nach Lösungen zu begleiten. 

► Schließlich brauchen Medien ein neues Verständnis von Qualität. Das sollte sich einerseits mehr an Prozessen, andererseits an der Wirkung des eigenen Journalismus orientieren als an selbstdefinierter Brillanz. Ein Qualitätsausweis ist zum Beispiel, wenn Redaktion und Organisation journalistische und ethische Standards einhalten und transparent mit möglichen Interessenkonflikten umgehen. Qualität könnte man auch daran messen, ob die Produkte eines Hauses die Bedürfnisse verschiedener Nutzergruppen erfüllen, ob die eigenen Recherchen Organisationen und Individuen zum Handeln bewegen, ob man Menschen auch mal Mut statt Angst macht. 

Natürlich dürfen sich Intendanten und Chefredakteure trotzdem über einen oberen Platz in Vertrauensrankings freuen – seit Jahren werden die Listen in Deutschland übrigens von öffentlich-rechtlichen Medien und Lokalzeitungen angeführt. Ob Redaktionen aber wirklich einen starken Journalismus produzieren, zeigt sich anderswo. 

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 26. Juni 2023.


 

Excel statt Prosa: Was Journalisten künftig können sollten

Man kann es traurig finden, dass Dirk Kurbjuweit nun Chefredakteur des Spiegel ist, selbst wenn man in der jüngsten Personalrochade keine Loyalitäten zu beachten hat. Immerhin geht dem Magazin ein überragender Beobachter und Schreiber verloren, der sich nun in strategischer Arbeit und Machtkämpfen aufreiben muss, statt das zu fabrizieren, was die Marke ebenso dringend braucht: erstklassigen Journalismus. Vor allem aber ist man als Unbeteiligte – womöglich zu Unrecht – verwirrt. Wird nicht seit Jahren auf ziemlich allen Branchen-Konferenzen gepredigt, dass es eine der größten Sünden bei Beförderungen ist, auf die exzellente Fachkraft zu setzen statt auf jene Kolleginnen und Kollegen mit dem größtmöglichen Führungspotenzial? Schließlich brauchen Medienhäuser in diesen Tagen vor allem versierte Strategen, die es zudem schaffen, Talente zu binden. 

Die Signalwirkung der Entscheidung, die Schreibkraft Nummer eins zum Chef von Deutschlands wichtigstem Nachrichtenmagazin zu machen, ist nicht zu unterschätzen. Junge Journalistinnen und Journalisten beobachten das und ziehen daraus ihre Schlüsse. Und damit stellen sie womöglich ihre beruflichen Weichen in eine ungünstige Richtung. Müssen die Medienschaffenden der Zukunft doch viele neue Dinge trainieren, die erst langsam in die Ausbildungspläne der Branche einsickern. Recherche und Schreiben gehören dazu, bilden aber nur noch einen kleinen Teil des Redaktionsalltags ab. Hier sind sieben Fertigkeiten, die auf jeden Fall zu den künftigen Grundkompetenzen gehören:

Verständnis von Geschäftsmodellen und Strategie

Die Entschuldigung, sich als Redaktionsmitglied nicht mit profanen Dingen wie Geldverdienen beschäftigen zu müssen, können sich künftig vielleicht noch ein paar Künstler leisten. Selbst denen hilft es zu wissen, wie ihre Gehälter erwirtschaftet werden. Schon heute haben viele Chefredakteure Ergebnisverantwortung, und das ist gut so. Wer mit seinem Journalismus etwas bewirken will, muss ihn gezielt einsetzen und dessen Erfolge kontrollieren. Ansonsten ist er nicht viel mehr als eine kostspielige Form der Selbstbefriedigung. Medienhäuser werden es sich künftig immer weniger leisten können, Ressourcen zu vergeuden. Im gerade anbrechenden Zeitalter von Künstlicher Intelligenz ist eine Strategie besonders wichtig. Wer da noch rein nach Bauchgefühl agiert und alles macht, nur weil man es machen kann, wird seine Redaktion überfordern und sein Publikum ohnehin. Journalisten, die strategisch denken können, tun sich zudem leichter mit einer Zukunft als Entrepreneure – eine Möglichkeit, die das Fach heute zum Glück eröffnet. 

Wissen über und Erfahrung in der Anwendung von KI

Künstliche Intelligenz eröffnet dem Journalismus große Chancen, birgt aber auch Risiken. Sie ist schon jetzt nützlich sowohl in der Recherche als auch in der Produktion und beim Ausspielen von Journalismus. Man kann damit unter anderem Quellen aufspüren, Interviews vorbereiten, datenjournalistisch arbeiten, Inhalte zielgruppengerecht entwickeln und personalisiert verteilen. „Journalisten aller Ressorts sollten sich mit KI beschäftigen“, sagte Garance Burke, Investigativ-Journalistin der Nachrichtenagentur AP in der vergangenen Woche auf dem IPI World Congress in Wien. Es ist aber auch wichtig, die Grenzen und Gefahren von KI zu kennen. Gibt es keine Kontrolle, kann sie dazu beitragen, Stereotype und Fehler zu potenzieren. Jede künstliche Intelligenz ist immer nur so gut wie der Datensatz, auf dem sie aufbaut.  

Kompetenz im Umgang mit Zahlen und Daten

Es soll noch heute Journalisten geben, die sich damit brüsten, in Mathe immer versagt zu haben. Möglicherweise gehören dazu einige derjenigen, die in der Wahlberichterstattung regelmäßig Prozent und Prozentpunkte verwechseln. Allerdings wird Datenjournalismus immer wichtiger werden, allein weil es immer mehr Daten gibt. Außerdem hilft Datenanalyse dabei, auf der Basis von Fakten ab und an mal die Agenda zu setzen, statt der Agenda anderer hinterher zu jagen. Gefragt, wie sich die Journalistenausbildung ändern müsse, riet Florencia Coelho, Ausbildungsredakteurin bei der argentinischen Zeitung La Nacion, auf dem IPI Congress vor allem eines: „Alle müssen lernen, mit Excel Tabellen zu arbeiten“.

Abgesehen von der Inhalte-Produktion kommt Datenverständnis auch in der Redaktion gelegen, wenn es darum geht, Nutzerzahlen zu analysieren und zu interpretieren. Je nach Strategie zeigen verschiedene Metriken, welche Inhalte erfolgreich sind und welche Mühe man sich sparen kann. Im Vorteil ist, wer solche Daten lesen und – noch besser – die Vorgaben entsprechend anpassen kann. 

Freude an kurzen oder spielerischen Formaten 

Im Journalismus sind in den vergangenen Jahren rund um Social Media und Datenanalyse viele neue Jobs entstanden. Dennoch ist der Traum vieler angehender Journalisten gleich geblieben: einmal eine Seite Drei schreiben. Das ist schade. Denn mit kurzen Formaten – insbesondere Video – spricht man Zielgruppen an, die der Journalismus früher eher ignoriert hat. Viele Menschen lassen sich zudem lieber auf komplexe Themen ein, wenn sie dies spielerisch tun können. Ein Beispiele dafür ist das von der Financial Times mit großem Aufwand produzierte Climate Game. Gerade junge Menschen nähern sich Nachrichten besonders gerne, wenn es lustig zugeht. Comedy-Formate sind gefragt. Das hunderte Zeilen lange Feature wird weiterhin Aufmerksamkeit finden, wenn es entsprechend erzählt ist. Aber mit der Vielzahl der Plattformen steigen die Möglichkeiten, Inhalte anders zu vermitteln. Gut für junge Absolventen ist: Wer neue Formen beherrscht, hat weniger Konkurrenz. Viele Redaktionen sind gut gefüllt mit versierten Schreibern. Wer Neues einbringen kann, ist gefragt.     

Faktenwissen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit 

Der Klimawandel ist das größte vorhersehbare Risiko für die Menschheit. Redaktionen haben deshalb die Pflicht, ihr Publikum dabei zu unterstützen, zukunftsorientierte Entscheidungen für sich, ihre Kinder und ihr Umfeld zu treffen. Jede Journalistin, jeder Journalist braucht ein Basiswissen in diesem Feld, das sämtliche Ressorts durchzieht und nach Einordnung ruft. Redaktionen wie Radio France haben deshalb damit begonnen, sämtliche Mitarbeitende in Sachen Klimafakten zu schulen. In der Journalistenausbildung sollte die Wissensvermittlung zum Thema Nachhaltigkeit eine Selbstverständlichkeit werden.   

Kenntnisse im Projekt- und Change-Management

Man mag argumentieren, dass das Managen von Veränderungen Chefsache ist, und Journalistenschüler sind noch keine Chefinnen oder Chefs. Aber auch Berufsanfänger werden heute oft schon mit Projekten betraut, auch, weil sie sich Verantwortung wünschen. Bei der zum britischen Konzern Reach gehörenden Marke Birmingham Live war es zum Beispiel eine Volontärin, die den überaus erfolgreichen Newsletter Brummie Muslims entwickelte, der sich an die muslimische Bevölkerung richtet. Es ist deshalb nützlich, wenn schon junge Mitarbeitende wissen, wie man Projekte managt, Koalitionen schmiedet, Befürworter auf seine Seite zieht, Ergebnisse nachhält und mit Fehlern umgeht. All das ist kein Hexenwerk, es gibt Werkzeuge dafür, die sich immer wieder auspacken lassen. Je früher man sie beherrscht, umso selbstverständlicher wendet man sie an.     

Kenntnisse aus Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Neurowissenschaften

Es gibt zahlreiche akademische Disziplinen, die dem Journalismus viel zu sagen hätten. Nur halten sich beide Seiten gerne auf Distanz. Man wirft sich gegenseitig Praxisferne beziehungsweise Oberflächlichkeit vor. Dabei könnten Praktiker und Forscher viel voneinander lernen. Für Journalisten ist es wichtig zu wissen, wie Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten, welche Reize wirken und welche überfordern. Schon lange forschen Wissenschaftler zum Beispiel zum Thema Nachrichtenvermeidung, erst seit kurzem wird dies von Redaktionen ernsthaft diskutiert. Journalisten fordern von anderen oft, dass sie sich mit der Wirkung ihres Tuns auseinandersetzen müssen, in Kommentaren verlangen sie dies zum Beispiel regelmäßig von den großen Tech-Konzernen. Es wird Zeit, dass sie diesen Rat auch selbst beherzigen.       

Diese Kolumne erschien am 31. Mai 2023 bei Medieninsider.


So kann Klimajournalismus den Journalismus nachhaltiger machen

Ein sehr geschätzter ehemaliger Kollege reagierte kürzlich etwas verschnupft auf die Ankündigung, demnächst erscheine ein großer Report zum Thema Klimajournalismus. „Klimajournalismus – was ist das? Journalisten sind keine Aktivisten“, kommentierte er einen entsprechenden LinkedIn-Post. Dieser Kollege hat sich Zeit seines Berufslebens mit der Autoindustrie beschäftigt. Er tut das kritisch, kompetent, exzellent vernetzt und mit Begeisterung für das Fachgebiet. Kaum jemand würde ihm dafür Aktivismus vorwerfen. Reportern, die über Klimaschutz berichten, geht dies anders. Auch wenn sie dies nur am Rande tun, zum Beispiel im Kontext eines Wetterberichts, findet sich immer jemand, der ihnen eine politische Agenda unterstellt. 

Das macht eine ohnehin komplizierte Sache nicht einfacher, selbst wenn sich die Führungsetage gegen solche Anwürfe verwahrt. „Wir haben keine Agenda. Der Klimawandel ist so offensichtlich geworden. Selbst den größten Kritikern ist klar, dass da etwas passiert“, sagt zum Beispiel der ARD-Vorsitzende und SWR-Intendant Kai Gniffke in einem Interview für den oben erwähnten Report „Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact“, der von der European Broadcasting Union in Auftrag gegeben wurde und in der vergangenen Woche erschienen ist (Disclaimer: Ich bin Lead-Autorin dieses Reports). 

So wie Gniffke reagierten viele Interviewpartner. Man berichte die Fakten, auf jeden Fall. Das ist verständlich, denn wer würde schon zugeben, eventuell eine Schere im Kopf zu haben, weil der Ruf der Überparteilichkeit auf dem Spiel steht? Für die öffentlich-rechtlichen Medien, die dieser verpflichtet sind, ist das eine spezielle Herausforderung. 

Da hilft es womöglich, wenn Führungskräfte sich und anderen vor Augen führen, dass eine Investition in Klimajournalismus und eine entsprechende Strategie in jedem Fall nutzt – und sei es, um das gesamte journalistische Angebot und damit die Organisation nachhaltiger zu machen. Denn gerade, weil Klimajournalismus so komplex ist, lassen sich die Lektionen, die Redaktionen daraus lernen können, auch auf andere Felder anwenden. Dies ist das Fazit des Reports, der sieben solcher Vorteile herausgearbeitet hat:

Erstens: Beim Klimajournalismus geht es um die Zukunft. Der heutige Journalismus steckt allzu häufig in der Gegenwart fest. Er muss Strategien entwickeln, um seine Legitimität in der Aufmerksamkeitsökonomie zu steigern. Dies gilt besonders für öffentlich-rechtliche Medienhäuser, denen die Daseinsberechtigung von verschiedenen politischen Lagern abgesprochen wird. Wer, wenn nicht sie sollte den Auftrag haben, zum Schutz der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten durch besseren Journalismus beizutragen? Damit würden die Sender auch den besonderen Ansprüchen der jungen Generation gerecht. Es ist vor allem ihre Zukunft.

Zweitens: Klimaschutz braucht Hoffnung. Nur damit bringt er Menschen zum Handeln. Der heutige Journalismus konzentriert sich dagegen meist auf Konflikte, Versäumnisse und Fehlschläge. Konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus bieten einen Weg in die Zukunft. Das Drive-Projekt der DPA und der Beratung Schickler, in dem 21 deutsche Regionalverlage ihre Daten zur Verfügung stellen, hat kürzlich belegt, dass inspirierende Stücke die wertvollsten Digital-Inhalte sind, wenn es um Abo-Abschlüsse geht. In der vergangenen Woche widmete sich der gesamte Journalismustag der Gewerkschaft Verdi dem konstruktiven Journalismus.  

Drittens: Im Klimaschutz zählt das, was getan wurde. Der heutige Journalismus konzentriert sich noch zu sehr auf das, was gesagt wurde. Dabei lässt der „Er hat gesagt, sie hat gesagt“ Journalismus, der vor allem die Politikberichterstattung dominiert, die meisten Nutzer eher kalt. Moderner Journalismus sollte stärker auf Daten als auf Zitaten aufbauen.

Viertens: Ein funktionierender Klimajournalismus nähert sich dem Publikum mit Respekt und in einer Sprache, die es versteht. Der heutige Journalismus erhebt sich oft besserwisserisch über sein Publikum. Viel zu häufig mahnt oder warnt er, statt zu erklären und aufzudecken. Viele Nutzer fühlen sich davon bevormundet oder dazu gedrängt, in Lagerkämpfen Partei zu ergreifen. Dabei muss Journalismus vielfältiger und inklusiver werden, wenn er Menschen erreichen, begeistern und zum Handeln bringen möchte. Das gilt für Formate und Protagonisten.

Fünftens: Klimajournalismus muss im Lokalen verankert sein. Der heutige Journalismus strebt dagegen zu oft nach Reichweite und vernachlässigt dabei die besonderen Bedürfnisse der Menschen vor Ort. Um sich unverzichtbar zu machen, sollte Journalismus seine Bedeutung als gemeinschaftsbildende Institution zurückgewinnen. Wer ein Medienprodukt nutzt oder gar abonniert, tut dies oft, um dazuzugehören. 

Sechstens: Klimajournalismus muss Wirkung zeigen, sonst ist er sinnlos. Er sollte deshalb seine eigenen Praktiken reflektieren und Erkenntnisse aus der Forschung nutzen, insbesondere aus den Kommunikationswissenschaften und der Psychologie. Journalismus tut dies noch viel zu selten. Journalisten sind üblicherweise neugierige Menschen, aber oft erstaunlich veränderungsresistent. Medienhäuser könnten viel gewinnen, zeigten ihre Führungskräfte und Mitarbeitenden mehr Freude am Lernen und strategischen Denken.

Siebtens: Klimajournalismus profitiert von Zusammenarbeit. Dies gilt für die interne Vernetzung von Ressorts und Regionen sowie extern für die Kooperation mit anderen Medienhäusern oder Partnern, die zum Beispiel Daten liefern. Im heutigen Journalismus dominiert noch viel zu oft altes Konkurrenzdenken. Dabei ließen sich über Kooperationen so viele Potenziale heben. Der Journalismus der Zukunft ist kollaborativ.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 7. März 2023. Um aktuelle Kolumnen dort zu lesen, braucht man ein Medieninsider-Abo. 

Darum ist der Journalismus heute objektiver als früher

Für die einen hat die Debatte um Objektivität im Journalismus gerade erst begonnen, für die anderen ist sie längst abgehakt. Allein das zeigt, wie dringend sie geführt werden muss. Denn es geht um nicht weniger als die Arbeitsgrundlage, aus der die Branche ihre Existenzberechtigung ableitet. 

Anlass dieser Feststellung ist ein Gastbeitrag in der Washington Postvom Januar 2023 samt Reaktionen darauf. Der Titel lautete: „Redaktionen, die Objektivität hinter sich lassen, können Vertrauen schaffen“. Was den Text brisant macht, ist die Autorenschaft: Leonard Downie Jr. Er ist ehemaliger Chefredakteur des Blattes und als Redakteur in den Siebzigerjahren mit den Watergate-Recherchen befasst gewesen. Heute ist er Journalismus-Professor an der Walter Cronkite School of Journalism der Arizona State University. Gemeinsam mit einem ebenso dekorierten Kollegen, Andrew Heyward, ehemals Präsident von CBS News, hat er mehr als 75 (amerikanische) Nachrichtenmacher:innen für eine Studie zum Thema befragt, deren wichtigste Erkenntnis viele in der Branche kaum verwundern dürfte: dass die vermeintliche Objektivität des (US-)Journalismus vor allem die Sichtweise derjenigen reflektiert, die in Redaktionen lange Zeit und oft nach wie vor das Sagen hatten und haben.

Die Reaktionen in der journalistischen Twitter-Blase waren gemischt. Als ein „Erdbeben“ für die Medienbranche bezeichnete ein ebenfalls langgedienter Post-Redakteur den Beitrag. Ein jüngerer Kollege aus Großbritannien hingegen bemerkte, wohl wissend, mit seiner Wortwahl zu überzeichnen: „Ich bin froh, dass zwei weiße Männer von einer Stiftung Geld dafür bekommen haben, um herauszufinden, was viele von uns schon sehr lange wissen.“ 

Ende der Geschichte? Eher nicht. Denn was die Debatte so wichtig macht, ist genau die Tatsache, dass sich die Frage nicht mit einem einfachen Daumen hoch oder Daumen runter beantworten lässt. Man kann sie mit einem „es gibt keine Objektivität“ genauso wenig beenden wie mit „es geht um nichts als die Fakten“. Dennoch stehen sich die Verfechter beider Positionen zumindest in der Außenwirkung unversöhnlich gegenüber. Dies reicht bis weit in den redaktionellen Alltag hinein. 

Bei der Recherche für einen Report zum Thema Klimajournalismus* erzählten viele Redaktionsleiter:innen von einem Generationenkonflikt. Junge Leute wollten zwar gerne über Klimathemen berichten, sie verstünden sich aber als Aktivist:innen, klagten Interview-Partner:innen aus verschiedenen Ländern und Mediengattungen. Wer so voreingenommen an die Sache herangehe, den könne man nicht mit so einer Aufgabe betrauen. „Wir müssen die jungen Leute immer wieder daran erinnern, wer wir sind“, so der Außenpolitikchef einer Nachrichtenagentur. Viele Frauen, Kolleg:innen aus Einwandererfamilien und/oder solche mit anderer Hautfarbe bemängeln hingegen auch hierzulande zurecht, dass die dominante Perspektive des Journalismus, die von der Ressortaufteilung und Bildauswahl bis hin zu Kommentaren praktisch alles prägt, der Vielfalt von Realität und Lebenserfahrungen der potenziell Angesprochenen nicht gerecht wird. 

Für die Branche verknüpft sich damit nicht nur ein Legitimitäts-, sondern auch ein Wirtschaftlichkeitsproblem. Weite – und wachsende – Teile des Publikums werden Journalismus schlicht ignorieren, wenn sie sich von dessen Inhalten und Formaten nicht angesprochen fühlen. Verlagen fehlen dann die Einnahmen, den gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Anbietern ihre gesamte Daseinsberechtigung. Es gilt aber auch: Ein Journalismus, der sich den Nutzer:innen anbiedert, in dem er allein ihre Perspektive bedient, hat seinen Namen nicht verdient. Guter Journalismus überrascht und macht neugierig, er sollte nicht erwartbar sein. 

Wie sich Widersprüche auflösen lassen

Vermeintlich steckt da ein Widerspruch, wie ließe er sich auflösen? Zunächst einmal durch Begrifflichkeiten. Das Wort Objektivität gehört ins Museum journalistischer Selbstbeschreibungen. Über Themen und Fakten zu berichten hat schon immer bedeutet, Themen und Fakten auszuwählen und zu gewichten. Viel öfter noch als heute, wo Daten beim Priorisieren helfen, wurde dazu früher vor allem das Bauchgefühl bemüht – und dann das Gespräch mit Kolleg:innen und Vorgesetzten, die ähnlich tickten. Auch am Beginn einer jeden investigativen Recherche stand und steht die Entscheidung: ist das ein Thema, lohnt sich die Investition? Es ist kein Zufall, dass es bei großen Investigativ-Projekten bislang viel häufiger um Korruption und Steuerhinterziehung ging als um andere Arten von Machtmissbrauch – die Recherchen zum Fall Harvey Weinstein waren auch aus diesem Grund ein wichtiger Schritt zu mehr Vielfalt. 

Ähnlich angeschlagen ist der im britischen Englisch eher verwendete Begriff „impartiality“, die Unparteilichkeit. Diese Vorgabe hatte zum Beispiel im Klimajournalismus viel zu lange dazu geführt, dass Leugner des Klimawandels Sendezeit bekamen, obwohl die Fakten sie längst widerlegt hatten. Die für die BBC zuständige britische Regulierungsbehörde Ofcom hat deshalb den Begriff um „due impartiality“ – angemessene Unparteilichkeit – erweitert und in ihre Statuten geschrieben. Darin verbirgt sich der Auftrag, das zu ignorieren oder zumindest richtigzustellen, was aus Sicht der Wissenschaft Blödsinn ist – was sich in manchen Fällen leider erst im Nachhinein beurteilen lässt. 

Dies alles bedeutet aber keinesfalls, dass Journalist:innen damit von der Pflicht entbunden sind, sich ein möglichst objektives Bild zu verschaffen. Ihr Job ist es, eigene Befindlichkeiten zurückzustellen, eine Position der Distanz einzunehmen und auf der Grundlage von Fakten Vorgänge von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Schon frühere Generationen von Reporter:innen und Redakteur:innen hätten dies tun sollen, dann wäre ihnen aufgefallen, dass in ihren Publikationen viele Themen und Perspektiven schlicht fehlten. So gesehen könnte man sagen, dass der Journalismus von heute objektiver ist als früher, weil er immer besser darin wird, Vielfalt zu sehen, zu schätzen, abzubilden und sich seiner blinden Flecken bewusst zu werden. 

Die Datenjournalistin Julia Angwien schrieb in ihrem Essay „Journalistic Lessons for the Algorithmic Age“ in der vergangenen Woche, statt von Objektivität oder Fairness zu sprechen, betrachte sie es als Aufgabe von Journalisten, eine Hypothese zu erstellen und dann Beweise dafür zu sammeln. Die Betonung liegt auf dem Wort Beweis, und das hat etwas mit Fakten zu tun. Denn auch das ist Realität in der Branche: Manch einer, der sich auf Subjektivität beruft, war nur zu bequem zum Recherchieren. 

Natürlich haben auch sehr subjektive Beiträge einen Platz im Journalismus. Erfahrungsberichte, die frische Einblicke bringen, gehören zu den stark nachgefragten und wirkungsstarken Stücken, sei es im Text-, Video- oder Podcast-Format. Nur muss dann – wie auch beim Kommentar – die Perspektive deutlich gemacht werden. Die Ich-Geschichte funktioniert nur, wenn sie handwerklich exzellent und wohl dosiert daherkommt.

Allerdings gibt es ohnehin keine Lösung, die für alle passt, so auch das Fazit des oben zitierten Gastbeitrags der Washington Post. Jedes Medienhaus muss seine eigenen Regeln entwickeln, auch dazu, wie sich Redakteur:innen in den sozialen Netzwerken verhalten sollten. Was nicht geht: Wolkig von Objektivität reden – und dann schweigen.    

Was der Journalismus nicht in Frage stellen darf

Journalist:innen sollten sich aber sehr klar darüber sein, was ihre Aufgabe und spezielle Rolle in der Gesellschaft ist. Subjektivität lässt sich in der weiten Welt der digitalen Plattformen überall besichtigen. Die Suche nach der „bestmöglichen Version der Wahrheit“ hingegen, wie es die Watergate-Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein einst formuliert hatten, ist ein Alleinstellungsmerkmal des Journalismus. Stellte er dieses Prinzip in Frage, würde er an seinem eigenen Untergang arbeiten. 

Dass die Ergebnisse dieser Suche oft unbefriedigend, unausgewogen, so gut wie immer unvollständig sind, liegt in der Natur der Sache. Auch Wissenschaftler:innen tasten sich nur mühsam von Erkenntnis zu Erkenntnis voran. Gerichte müssen urteilen, wenn noch nicht alle Fakten vorliegen. Trotz aller Datenfülle ist selbst Künstliche Intelligenz fehlbar, weil sie nur Wahrscheinlichkeiten aber nicht die Wahrheit berechnen kann. Alle können falsch liegen. Aber Journalist:in sein heißt zuhören, hinschauen, nachbohren, fragen – und die Scheinwerfer auf andere richten, nicht auf sich selbst. Dass dazu Journalist:innen unterschiedlichster Perspektiven gebraucht werden, versteht sich. Nur manch eine Redaktion muss das noch begreifen.       

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 8. Februar 2023. Alexandra schreibt dort jeden Monat, zum Lesen aktueller Kolumnen braucht man ein Medieninsider-Abo. 

Die Pressefreiheit der anderen

Man würde sich gerne über das Alpha-Gehabe der Herren Döpfner, Reichelt, Friedrich und – in einer Nebenrolle – Stuckrad-Barre amüsieren und es als das letzte Zucken einer aussterbenden Spezies abtun. Sollen sie sich doch bekämpfen, der Journalismus ist längst weitergezogen. Dieser Gedanke drängt sich auf, wenn man die Dutzenden nachdenklichen, vielfältigen und zukunftsgewandten Beiträge Revue passieren lässt, die sich kürzlich vor und jenseits der Bühnen des International Journalism Festival in Perugia aufsaugen ließen. Aber Lachen wäre in diesem Fall verfehlt. Das, was derzeit rund um den weltweit einflussreichen Axel-Springer-Konzern abläuft, hat das Zeug, das öffentliche Vertrauen in den Journalismus massiv zu untergraben – noch stärker als die RBB-Affäre oder die Causa Relotius. 

Den Protagonisten des Schaukampfs möchte man jedenfalls raten, zum diesjährigen Tag der Pressefreiheit lieber zu schweigen. Denn wer sollte die hehren Mahnungen zur Bewahrung dieses geschützten Gutes noch ernst nehmen, wenn Spitzenpersonal bedeutender Medienhäuser signalisiert, dass entsprechende Regeln für sie selbst nicht gelten? Und das drückt sich nicht nur in ein paar nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Nachrichten aus, in denen politische Einflussnahme gefordert und der Quellenschutz ausgehebelt werden. Auch das abweisende Gehabe deutscher Verlage rund um den Media Freedom Act, mit dem Brüssel unter Führung der EU-Vizepräsidentin Vera Jourova geplagten Redaktionen und ihren Belegschaften zur Seite stehen will, zeugt nicht gerade von einem Bewusstsein für die Größe der Herausforderung. Wer in jenen Kreisen über den Schutz der Pressefreiheit redet, scheint damit erstaunlich oft die Pressefreiheit der anderen zu meinen. Selbst möchte manch einer wohl doch lieber nach Gutsherrenart durchregieren.

Man schützt die Pressefreiheit lieber woanders

Das wiederum scheint kein deutsches, sondern ein internationales Phänomen zu sein. Regierungen finanzierten sehr gerne Initiativen, die die Pressefreiheit nicht etwa daheim, sondern in anderen Ländern stärken sollten, sagte Meera Selva, Europa-CEO der Organisation Internews, auf einem Panel in Perugia. Die Runde widmete sich der delikaten Frage, ob und wie Regierungen Journalismus unterstützen könnten. Prominentestes Beispiel sind die USA.

Dort ist man, was Auslandsengagements für Medienfreiheit angeht, durchaus großzügig. Wen kümmert da schon das heimische Problem Julian Assange? Womöglich hoffen viele Regierende, dass „das Volk“ die Freiheit der Medien als unverdientes Privileg von Journalisten versteht statt als Stütze der Demokratie. Oder sie gehen davon aus, dass die meisten Menschen nur eine vage Ahnung davon haben, worauf diese in vielen Ländern von der Verfassung garantierte Freiheit baut: vor allem auf redaktionelle Unabhängigkeit, Auskunftsrechte und Informantenschutz. Mit dieser Einstellung aber unterschätzen sie ihr Publikum.

Eine kürzlich veröffentlichte, repräsentative Umfrage* zum Stand der Pressefreiheit in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei hat ergeben, dass die Menschen sich in deutlicher Mehrheit um den Schutz der Medien in ihrem Land sorgen – die älteren mehr als die jüngeren mit Ausnahme der Slowakei, wo der Mord an dem Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten auch die junge Bevölkerung aufgerüttelt zu haben scheint. 

Interessanterweise trauen die Befragten – neben den Berufsverbänden – vor allem der EU zu, wirkungsvoll gegen Angriffe einzuschreiten. Das Vertrauen in die Journalisten selbst variiert. Zu viele Redakteure haben sich offenbar für die Bürger ersichtlich vereinnahmen lassen in den Ländern, wo die öffentlich-rechtlichen Sender zum Teil zu Staatsfunk mutiert sind und überwiegend Oligarchen private Medien kontrollieren. 

Man sollte sich nicht zu selbstzufrieden geben bei der Frage, wie eine solche Umfrage in Deutschland ausgefallen wäre. Vertrauensfördernd sind die jüngsten Verwerfungen jedenfalls nicht. Reporter ohne Grenzen, die am Tag der Pressefreiheit ihr neues Ranking veröffentlichen, haben – so viel ist sicher – auch europäische Länder erneut abgewertet, darunter Österreich, wo ein Konflikt um Regierungsinserate und eine staatlich geförderte Journalisten-Ausbildungeskaliert ist.

Auch in Deutschland sollten Medienunternehmen deshalb wachsam bleiben und sich konstruktiv auch auf europäischer Ebene für Pressefreiheit einsetzen. Der Media Freedom Act mag nicht in allen Facetten perfekt sein. Es stünde den Verlagen aber gut an, um Lösungen zu ringen, statt Einmischung zu verdammen. Vor allem die Anforderungen des Regelwerks an Transparenz stoßen auf Widerwillen. Regulierung setzt aber aus gutem Grund immer da an, wo es an Einsicht mangelt. Wer Vorgaben nicht mag, könnte sich zum Beispiel ganz freiwillig über die Journalism Trust Initiative als vertrauenswürdiges Medienunternehmen zertifizieren lassen. Reporter ohne Grenzen hat dieses Projekt gemeinsam mit der European Broadcasting Union genau deshalb entwickelt, weil sie es satt hatten, immer nur Fehlverhalten zu verdammen und nach Regulierung zu rufen, wenn sich guter Journalismus auch mit konstruktiven Lösungen stützen lässt.  

Propaganda und Desinformation kennen keine Grenzen, und in Kriegs- und Krisenzeiten sind die Menschen noch stärker darauf angewiesen, dass Journalisten ungehindert arbeiten können. Medienhäuser haben die Pflicht, dazu beizutragen. Plädoyers für mehr Freiheit bleiben nur Geschwafel, wenn es darin erkennbar nur um die eigene Freiheit geht.   


*Transparenz-Hinweis: Alexandra Borchardt gehört dem Committee for Editorial Independence des Medienkonzerns Economia an, das die Umfrage in Auftrag gegeben hat. 

Diese Kolumne erschien zuerst am Tag der Pressefreiheit, dem 3. Mai 2023 bei Medieninsider

Die KI-Revolution: Darauf müssen Redaktionen aufpassen

Man muss nicht von Technik besoffen sein, um sich all die Potenziale auszumalen, die in der Entwicklung von Bots wie ChatGPT stecken – auch für den Journalismus. Der in dieser Woche erschienene Trend-Report des Reuters Institutes for the Study of Journalism erwartet gar ein „Jahr des Durchbruchs“ für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Redaktionen. Schon länger setzen viele von ihnen KI ein, vor allem für Leseempfehlungen, aber auch für automatisierte Textproduktion. Nun könnte der „Roboterjournalismus“ aber ein neues Level erreichen. 

Der im November gelaunchte Bot von Open AI beantwortet in Windeseile Fragen und hilft sogar bei der Erstellung von Interviewfragen. Er fasst Texte zusammen oder redigiert sie, er spuckt Literaturlisten aus und komponiert sogar Cartoons. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Der Bot von Open AI ist das, was man auf Englisch einen Game Changer nennt. Nimmt man dazu noch die Möglichkeiten, auf Basis von Recherchen animierte Filme zu produzieren, wie das zum Beispiel die Redaktion von Semafor ausprobiert, drängt sich der Eindruck auf: Bald ist alles möglich. 

Und genau hier liegt eine riesige Herausforderung für den Journalismus. Denn schon heute fehlt es in den meisten Medienhäusern vor allem an Fokus und an Klasse, keinesfalls an Masse. Je mehr möglich ist, umso wichtiger wird es zu entscheiden, was man tut, und was man lieber lässt. Einer Branche, die ohnehin lieber mit Bauchgefühl arbeitet als mit Strategie, wird genau das besonders schwerfallen. 

Die Chancen

Unter dem Strich dürfte KI dem Journalismus deutlich mehr nützen, als dass sie ihm schadet. Das JournalismAI Project an der London School of Economics ist ein Fundus entsprechender Innovationen, inklusive Trainingsprogramm. Gerade kleine Redaktionen profitieren von KI, weil sie kleineren Teams mehr leisten können. Software wird Routinearbeiten erledigen, während Reporter tiefer recherchieren – und auch das mit Hilfe von KI. Der Faktencheck wird einfacher, hyperlokale Berichterstattung möglich, Personalisierung von Inhalten und Kundenbindung leichter zu automatisieren.

Vielfalt und Inklusivität lassen sich besser erreichen, wenn Algorithmen dies kontrollieren oder gar steuern. Bei der kanadischen Globe and Mail zum Beispiel bestückt die Software Sophi die Homepage und stellt unter anderem sicher, dass ethnische Minderheiten inhaltlich repräsentiert sind. Anderswo machen automatisierte Übersetzungen auch in seltene Sprachen Beiträge neuen Zielgruppen zugänglich. Für diejenigen, die schlecht lesen können, gibt es Text-to-speech- Software, für solche mit Gehörproblemen maschinelle Transkription. Avatare können dieselbe Nachricht je nach Zielgruppe im entsprechenden Look, Stil, und Komplexitätsgrad vermitteln. Software wie Dall-E hilft dabei, komplexe Inhalte in Bilder zu pressen. Das bedeutet auch, dass verschiedene Audiences präziser bedient werden können. Die Hoffnung besteht, mit neuen Mitteln einen größeren Teil derjenigen zu erreichen, die das Nachrichtengeschehen bislang ignoriert haben – womöglich, weil sie sich nicht angesprochen fühlten.

Die Risiken

Natürlich bestehen auch Risiken. Die Gefahr wächst, auf manipulierte Inhalte hereinzufallen, denn davon wird es reichlich geben. Journalisten werden ihre Rolle als Gatekeeper neu ausfüllen müssen. Bislang sind die Bots darauf trainiert, plausible Inhalte abzuliefern, nicht 100 Prozent Faktentreue. Fachleute sagen, die Lernkurve der KI sei steil, die Fehlerquote sinke rasant. Aber derzeit kann vermutlich niemand mit Sicherheit sagen, ob die maschinellen Möglichkeiten zu mehr Lügengeschichten oder akkuraterer Qualitätskontrolle führen werden. Und natürlich fragen sich Journalisten, wie ihre Aufgaben und Arbeitsperspektiven sich entwickeln werden in einer Welt, in der Maschinen schneller und womöglich verständlicher schreiben und produzieren, als sie das je könnten.

Die Sorgen sind berechtigt. Vor allem jene Kolleg:innen, denen es an Lust, Zeit, Ressourcen und Energie zum Lernen fehlt, könnten am Ende leer ausgehen. Viele Jobs werden sich verändern. Viele Fähigkeiten, die früher nachgefragt waren, stellt die Technik über Nacht in den Schatten. Aber der Einzug von KI in Redaktionen birgt auch Gutes für den Arbeitsmarkt. Gelten Verlagshäuser zum Beispiel heute für Tech-Talente noch als angestaubt, könnten sie zu verlockenden Arbeitgebern werden, wenn KI-Versiertheit künftig zum Job-Profil gehört. Entsprechendes Know-how macht Journalisten auch für andere Branchen attraktiv und damit leichter vermittelbar. Redaktionsarbeit dürfte interessanter werden, wenn Roboter die Routine-Jobs erledigen. 

KI werde Medienunternehmen dabei helfen, „mehr mit weniger zu erreichen und Möglichkeiten in der Produktion und Verteilung besserer Inhalte zu eröffnen“, schreibt Nic Newman im Trend-Report des Reuters Institutes, der auf einer nicht-repräsentativen Umfrage unter Top-Führungskräften in Medienhäusern weltweit beruht. „Aber sie wird auch zu neuen Dilemmata führen, wie diese machtvollen Technologien ethisch und transparent genutzt werden können“, so Newman weiter. 

Eine Frage der Ethik

Wenn sich Journalisten künftig mehr mit Ethik beschäftigen müssen, um nicht von KI überrumpelt zu werden, ist das zunächst einmal eine gute Sache. Tatsächlich ist es zwingend überall dort, wo lernende Software Menschen ersetzt, denn werden Fehler und Vorurteile maschinell skaliert, sind die Schäden potenziell immens. Genauso wichtig wird es aber sein, dass Medienhäuser und Redaktionen ihre Ziele und die dazu passende Strategie penibel entwickeln. Schon bei der digitalen Transformation haben das viele versäumt. Etliches, was nach Innovation klang, wurde gemacht, ohne vorher zu überlegen, auf welche Weise es zum Erfolg von Produkten, Marken oder Missionen beitragen könnte. Man pilgerte lieber zur New York Times, als sich mit den Bedürfnissen der potenziellen Nutzer in der Nachbarschaft zu beschäftigen. So wurde viel Geld und Energie verbrannt. Diese Fehler gilt es zu vermeiden.

Die Versuchung, immer noch mehr zu produzieren, schlicht, weil es möglich ist, könnte eines der größten Probleme des Journalismus noch verschärfen. Laut dem Trend-Report macht die wachsende Nachrichtenmüdigkeit ihres Publikums schon jetzt 71 Prozent der befragten Führungskräfte Sorgen. Dieser kann man nicht mit mehr Masse begegnen, sondern mit Angeboten, die relevant und bedürfnisgerecht sind. Ob sie mit oder ohne KI erstellt werden sollten, das müssen Menschen entscheiden. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 11. Januar 2023

Sind Audiences schon wieder News von gestern?

Kürzlich erreichte die Medienbranche mal wieder eine Nachricht aus der alten Welt. Es sei ein „Mythos“, hieß es in einer Meldung des Beratungsunternehmens Schickler, dass online nur kurze Texte gelesen würden. 1400 Wörter seien die optimale Länge, bei der Leserinnen und Leser am Bildschirm hängenblieben, erst danach falle die durchschnittliche Lesezeit ab. Politik-Stories sollten etwas kürzer sein, bei Geschichten über Menschen dagegen könne man ruhig in die Vollen gehen. Diese Empfehlung basiert auf der Analyse von 750.000 Artikeln regionaler Newsportale und stammt aus dem uneingeschränkt verdienstvollen Projekt „Drive“, bei dem dutzende Verlage unter Leitung von Schickler und der DPA ihre Nutzerdaten bündeln und auswerten. Und doch reflektiert sie eine überholte Denke. Denn solche „one size fits all“-Aussagen helfen nicht, sie gehen schlimmstenfalls nach hinten los. Noch mehr Texte mit Überlänge braucht niemand. 

Praktiker können ohnehin aus langjähriger Erfahrung berichten: Wenn Länge funktioniert, liegt das einzig und allein an der Qualität des Textes, Videos oder Podcasts. Beim Vergleich von Textlängen mit Nutzungsintensität ergibt sich üblicherweise eine U-förmige Kurve. Sehr kurze Stücke werden viel abgerufen, sehr lange Stücke auch. Dazwischen liegt das in der Branche als „Tal des Todes“ bezeichnete Territorium, der berüchtigte 80-Zeiler, der selten seinen Zweck erfüllt. Dumm nur, dass die Kurve des Angebots oft eher die Form eines Torbogens hat.   

Dennoch werden sich die Schickler-Analyse viele anschauen, die verzweifelt nach Patentrezepten suchen, um ihr (digitales) Angebot an die Leser zu bringen, ihnen Loyalität und im besten Fall ein Abo zu entlocken. Doch dies ist die überkommene Annahme, die von einem allgemeinen Publikum, einer geduldig konsumierenden Öffentlichkeit ausgeht, an die sich der Journalismus richtet. Nur: Diese Rezepte gibt es nicht. In einer Welt des Überangebots an Informationen, Nachrichten und Ablenkung hilft es nur, sich intensiv mit den verschiedenen Bedürfnissen potenzieller Nutzer zu beschäftigen und ihnen einen Mehrwert zu bieten. Im Fachjargon heißt dieses Konzept gemeinhin „Audiences first“.

Dieses Werte-Versprechen muss man aber auch einlösen können. Wer zum Beispiel eine Redaktion mit überwiegend handwerklich guten, aber nur einzelnen brillanten Autoren führt, sollte sich gut überlegen, die 1400-Wörter-Botschaft zu verbreiten. Natürlich kann man Schreibkünstler oder Investigativ-Talente einkaufen. Für die meisten ist es aber die realistische Option, penibel an Überschriften zu arbeiten, thematische Schwerpunkte aufzubauen, welche die Kompetenzen im Team spiegeln, mit bestimmten Nutzergruppen intensiv zu interagieren oder Produkte zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Menschen schnell informieren können. Es lohnt sich, als Beispiel den britischen Economist zu studieren; er gehört zu den Publikationen, die sich verschiedenen Bedürfnissen von den Formaten und Produkten her besonders gekonnt annähern. 

Jedes Medium ist anders 

Jede Medienorganisation sollte sich über ihre ganz speziellen Qualitäten, ihren Platz im allgemeinen Angebot im Klaren sein und ihre Strategie entsprechend ausrichten. Wer sich fragt, ob es sich lohnt, eine bestimmte Nutzergruppe gezielt zu bedienen, kann sich an folgenden Fragen entlanghangeln: Ist sie groß genug, haben wir genug Leidenschaft und Kompetenz dafür, konkurrieren wir mit einem starken externen Angebot und – wichtig mit dem Blick auf Digital-Abos – sind die Nutzer potenziell zahlungsbereit? Hat man ein paar Antworten, hilft nur austesten. Dazu muss man nicht die New York Times sein. Gerade Lokalzeitungen können sich mit einem auf verschiedene Nutzergruppen in der Region abgestimmten Profil unverzichtbar machen. 

Es lassen sich einige Gründe identifizieren, warum sich viele Verlage in Deutschland mit dem Audience-Konzept so schwer tun. 

► Ein Grund ist, dass sich das Print-Geschäft hierzulande noch einigermaßen rentiert. Etliche leitende Manager setzen nach wie vor auf das Papier- (oder PDF-)affine Publikum und hoffen, dass das reicht, bis sie selbst in Rente gehen. Steigende Energie- und Logistikkosten machen das Aussitzen allerdings zu einer gefährlichen Strategie. 

► Der zweite Grund ist Ignoranz. Wie früher betrachtet man das Geschäft allein aus der Perspektive des Produzenten (der Journalisten) und Verkäufers heraus und beschäftigt sich zu wenig mit den Nutzern und deren recht unterschiedlichen Bedürfnissen. 30 Jahre Digitalisierung scheinen noch nicht auszureichen, um zu verdeutlichen, dass sich die Dynamiken zwischen Herstellern und Kunden entschieden geändert haben.  

Audience-Management: Stilgruppen statt Zielgruppen

Für das englische Wort Audiences gibt es leider keine wirklich gute Übersetzung – Vorschläge sind hier willkommen. Einige Redaktionen arbeiten mittlerweile mit „Themen-Teams“ aus der mit Daten belegten Erkenntnis heraus, dass zum Beispiel Angebote rund um Familie und Partnerschaft, private Finanzen oder Kriminalfälle überdurchschnittlich viele Abos generieren. Das Audience-Konzept geht aber über das inhaltliche Angebot hinaus. Audiences sind Bedürfnis- oder Wertegemeinschaften, die bestimmte Gewohnheiten oder Vorlieben teilen – zum Beispiel frühmorgens bedrucktes Papier aus dem Briefkasten zu fischen. Auch die Print-Audience ist eine Audience, aber eben nur noch eine von vielen. Diese Gemeinschaften schätzen es, in einem bestimmten Ton, zu bestimmten Zeiten mit bestimmten Produkten angesprochen zu werden. Die Themen können dagegen sehr variieren.

Aus diesem Grund stößt auch das Persona-Konzept schnell an seine Grenzen, auf das einige – tendenziell eher fortschrittliche – Verlage ihre Produktion ausgerichtet haben. Toan Nguyen, Geschäftsführer von Jung von Matt Nerd, Top-Werber und Spezialist im Aufspüren neuer Trends, warnte kürzlich in einem Vortrag davor, zum Beispiel das Alter als verbindendes Merkmal zu überschätzen. Eine 31-Jährige in Yoga-Pants, die im Bio-Laden am Mandelmus-Regal auf eine 51-Jährige mit Yoga-Matte unter dem Arm treffe, habe womöglich mehr mit ihr gemeinsam als eine 31-Jährige, die sich im Drogeriemarkt nebenan mit L’Oreal Shampoo und Maybelline New York Lipgloss eingedeckt habe. „Alter hat eine statistische Wahrscheinlichkeit auf Gemeinsamkeiten, mehr nicht“, sagte Nguyen. 

Werte-Gemeinschaften seien deutlich wichtiger. Er empfiehlt, von Stilgruppen zu sprechen statt von Zielgruppen. Den Begriff Audiences kann Nguyen übrigens überhaupt nicht leiden. Dies reflektiere die alte Denke vom Bespielen eines passiven Publikums. In der neuen, digitalen Welt gehe es eher darum, Communities aufzubauen und zu pflegen. Das signalisiere immerhin, dass es da einen Rückkanal gebe, weil gegenseitige Wertschätzung zentral sei. Das Gefühl von Zugehörigkeit ließen sich viele Menschen einiges kosten. 

Ist „Audiences first?“ also schon wieder die News von gestern? Über passende Begriffe kann man lange diskutieren. Wichtig ist, dass sie treffend, aber auch so klar sind, dass sie zur Sprache der jeweiligen Redaktion passen. Am schlichtesten hat es vermutlich Clayton Christensen ausgedrückt, der leider früh verstorbene Erfinder des Konzepts „Disruptive Innovation“. In jeder Branche müsse man sich damit auseinandersetzen, welche Jobs man für seine Kunden zu erledigen habe, schrieb er schon in den Neunzigerjahren. In seinem Aufsatz „Breaking News“, der sich speziell mit der Medienbranche beschäftigt, formulierte er das 2012 so:

 „Menschen laufen nicht herum und schauen nach Produkten, die sie kaufen können. Sie leben ihr Leben, und wenn sie auf ein Problem treffen, suchen sie eine Lösung – und an diesem Punkt bestellen sie ein Produkt oder eine Dienstleistung. (…) Es ist der Job, nicht der Kunde oder das Produkt, das die fundamentale Einheit der Analyse sein sollte.“ 

Was immer dieser Job ist, er wird sich nicht in der Anzahl der Wörter messen lassen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 10. November 2022.

Die Transparenz-Illusion: Wie Journalisten wirklich Vertrauen schaffen

Vertrauen ist ein großes Wort – und ein ebenso schwammiges Konzept. Was bedeutet das, wenn Menschen in Umfragen die Frage verneinen, ob sie Medien vertrauen? Kann man tatsächlich von einer Vertrauenskrise in den Journalismus sprechen, wie das beide Seiten gerne tun: diejenigen, die Alarm schlagen, um sich davon Unterstützung zu erhoffen, sowie auch die anderen, die nicht viel von der Zunft und ihren Praktiken halten? 

Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die versuchen, dem auf den Grund zu gehen. Die wohl umfangreichste Arbeit dazu leistet das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford. Es legt mit dem Digital News Report nicht nur seit zehn Jahren die weltweit größte, überwiegend quantitative Studie über Mediennutzungsverhalten vor – der Deutschland-Teil wird vom Hans Bredow Institut betreut –, sondern leitet auch ein tiefgreifendes Forschungsprojekt zu Vertrauen in Medien. In Deutschland befasst sich seit 2015 auch die Johannes Gutenberg Universität in der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen mit dem Thema. An der TU Dortmund gibt es seit 2018 im Forschungsprojekt Journalismus und Demokratie Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeit des Journalismus und Vertrauen in die Medien.   

Auf den ersten Blick mögen sich ein paar Erkenntnisse der verschiedenen Studien widersprechen. Zum Beispiel hatten die Dortmunder im Frühjahr gemeldet, dass die Glaubwürdigkeit des Journalismus während der Pandemie gelitten habe, während sowohl der Digital News Report als auch die Uni Mainz zumindest für 2020 und 2021 einen deutlichen Zuwachs an Vertrauen in die Medien registriert hatten. Steigt man aber etwas tiefer in das Material ein, ergeben sich Gemeinsamkeiten – ganz unabhängig von der immer gültigen Erkenntnis, dass der Wortlaut der Fragestellung die Antworten prägt, weshalb sich die verschiedenen Untersuchungen im Detail schwer miteinander vergleichen lassen. Was sich ableiten lässt:

Erstens: Journalisten verstehen unter Vertrauen in Medien überwiegend etwas anderes, als dies die Konsumenten von Journalismus tun

Journalisten meinten oft, Transparenz über ihre Arbeit oder der Austausch mit den Lesern, Hörern oder Zuschauern prägten Vertrauen, so Rasmus Nielsen, Direktor des Reuters Institutes, kürzlich auf dem World News Media Congress. Das Publikum hingegen sei viel pragmatischer. „Die Menschen wollen wissen, ob die Medien für sie da sind“, sagte er. Ihnen sei wichtig, dass sich Journalisten mit den Themen beschäftigten, die für sie und ihr tägliches Leben relevant seien (s. Word Cloud). Nutzer stünden dem Journalismus zu großen Teilen nicht etwa feindselig, sondern eher gleichgültig gegenüber. Nielsen: „Sie glauben, dass sie Journalismus nicht brauchen oder finden ihn deprimierend.“ Aus diesem Grund ist die leider erst in diesem Jahr so populär gewordene Debatte über Nachrichtenmüdigkeit so wichtig. Denn wer keinen Journalismus mehr konsumiert, kann auch kein Vertrauen zu entsprechenden Marken aufbauen.  

Zweitens: Die Menschen sind überwiegend nicht anti Journalismus, oft aber anti Journalisten

Journalismus ist wichtig für das Funktionieren der Demokratie – dies bestätigten in der Dortmunder Studie vom April 87 Prozent, also etwa neun von zehn Befragten. Damit lässt sich arbeiten. Allerdings äußerten sie viel Kritik daran, wie Journalismus oft betrieben werde: der Einfluss von Politik und Wirtschaft sei zu stark, die Themen zu wenig relevant (siehe oben), die Sensationslust zu ausgeprägt. 43 Prozent bestätigten die Aussage, der Journalismus sei in den vergangenen Jahren schlechter geworden. Das Gleiche sagen übrigens viele Journalisten über die eigene Branche.

Niederschmetternd fiel das Urteil der Nutzer in der jüngsten Studie des Vertrauens-Projekts des Reuters Institutes aus: Viele Journalisten seien Manipulatoren, die vor allem selbst groß herauskommen oder die Botschaften von bestimmten Politikern verstärken wollten, hieß es dort auf der Basis von Nutzer-Interviews in den USA, Großbritannien, Indien und Brasilien. Hier befinden sich die Verlage und Sender im Zwiespalt: Bauen sie bestimmte Kolleginnen und Kollegen als starke Einzelmarken auf, die auch in den Talkshows und in den sozialen Netzwerken funktionieren, kann dies zwar vertrauensbildend (und lukrativ) sein. Dieser Effekt verkehrt sich aber schnell ins Gegenteil, wenn die Person als zu eitel wahrgenommen wird, sich mit den „falschen“ Experten oder Politikern assoziiert oder gar selbst in eine Affäre verstrickt ist. Es bleibt deshalb wichtig, allen Personalisierungstendenzen zum Trotz auch die Medienmarke selbst zu pflegen, die den einen oder anderen personellen Abgang hoffentlich unbeschädigt übersteht.      

Drittens: Das geringe Vertrauen in digitale Plattformen prägt das angeknackste Vertrauen in den Journalismus

Von einem „Trust Gap“, einer Vertrauenslücke, sprechen die Forscher des Reuters Institutes, und sie meinen damit den unterschiedlichen Vertrauensvorschuss, den die Nutzer den traditionellen Medien einerseits und den digitalen Plattformen andererseits entgegenbringen. Den etablierten Medienmarken vertrauen laut Digital News Report im Schnitt gut 40 Prozent der Menschen, für die Suchmaschinen und sozialen Netzwerke gibt dies dagegen nur jeder Vierte zu Protokoll. Das sind zunächst einmal gute Nachrichten für jene, die ihre Kunden direkt auf ihre Homepage locken oder an ein gedrucktes Produkt, eine linear ausgestrahlte Sendung binden können. Da nun aber vor allem jüngere Generationen ihren Journalismus hauptsächlich aus den Netzwerken beziehen, nimmt das Vertrauen in Medienmarken schon strukturell bedingt ab. Oft wissen die Konsumenten von Nachrichten schließlich nicht einmal, wer der Urheber eines Beitrags war, den sie im Netz gefunden haben. 

Nach Ansicht von Nic Newman, Hauptautor des Digital News Reports, ist dies einer der Gründe, warum jüngere Nutzer mit Journalismus oft nichts anfangen können. Früher erklärten sich viele Stücke aus dem Zusammenhang einer Zeitungsseite oder einer Sendung heraus, heute erscheinen sie digital oft ohne Einordnung im Strom von anderen Inhalten. Redaktionen müssen deshalb darauf achten, dass jedes Stück für sich stehen kann, ausreichend gekennzeichnet ist und klar für die Marke steht. Sinkendes Vertrauen kann übrigens auch ein unbeabsichtigter Effekt von digitaler Bildung sein: Immerhin wird die jüngere Generation zurecht dazu angehalten, Inhalten im Netz mit Skepsis zu begegnen – sie könnten schließlich manipuliert sein. So betrachtet wäre der kritische Blick des Publikums ein gutes Zeichen.          

Viertens: Das Vertrauen in den Journalismus wird unmittelbar vom Vertrauen in die Politik beeinflusst 

Im Digital News Report ist dies Jahr um Jahr belegt: Dort, wo es polarisierende Wahlen, Entscheidungen wie den Brexit oder Bewegungen wie die Gelbwesten-Proteste in Frankreich gibt, leidet das Vertrauen in die Medien massiv. Journalisten werden dafür bestraft, dass sie sich in die Tiefen des politischen Streits hineinbegeben. Man verortet sie allzu oft auf der Seite der Mächtigen, statt sie als Verbündete wahrzunehmen. Hier hilft es, mehr auf Themen als auf Zitat-Schlachten zu setzen, Distanz zu wahren und zu akzeptieren, dass der Journalismus oft eben auch nicht besser sein kann als die Welt, die er abbildet. 

Dies könnte auch den negativen Ton in der Dortmunder Studie erklären, deren Befragte sich deutlich skeptischer zur Corona-Berichterstattung äußern als beispielsweise jene der Untersuchung, die von der Münchner LMU und der Universität Mainz im Auftrag der Augstein-Stiftung erarbeitet wurde. Die Dortmunder hatten ihre Stichprobe im Februar dieses Jahres erheben lassen, der Regel-Flickenteppich und die Impfpflicht wurden da kontrovers diskutiert. Die Augstein-Studie, in der die Menschen den Medien ein recht gutes Zeugnis ausstellten, basierte dagegen auf Befragungen im April 2020 und Februar 2021, als eine Mehrheit noch der Meinung war, die Regierung gehe mit der Pandemie vergleichsweise vernünftig um. Auch die Hoffnung auf eine Impfung mag zu dem Zeitpunkt eine Rolle gespielt haben.  

Fünftens: Mehr Transparenz führt nicht unbedingt zu mehr Vertrauen – sie dient aber der Qualität 

Es ist ein landläufiger Irrtum, der auch in der Branche kursiert, dass die Offenlegung aller Arbeitsweisen und vor allem Fehler mehr Vertrauen schafft. Für die genauen Arbeitsweisen interessieren sich die meisten Menschen genauso wenig wie dafür, wie genau der Fernseher funktioniert oder mit welchem Werkzeug der Installateur die Heizung repariert – beide sollen nur ihren Job erledigen. Legt man jeden Fehler offen, kann dies sogar nach hinten losgehen. Man stelle sich ein Krankenhaus vor, das auf einem Monitor am Eingang exakt alle Fehldiagnosen der vergangenen Monate protokolliert. Womöglich würde sich niemand mehr dort operieren lassen. Transparenz ist dennoch wichtig. Erstens ist sie die Voraussetzung für eine gute Fehlerkultur, die dafür sorgen sollte, dass permanent aus Fehlern gelernt wird. Zweitens diszipliniert sie. Müssen Journalisten die Quellen aller Studien angeben, die sie zitieren, werden sie sich überlegen, ob sie für ein Zitat zum zehnten Mal auf denselben Studienkumpel zurückgreifen oder doch mal nach aktuellen Veröffentlichungen suchen. Transparenz steigert also die Qualität – und sollte auf diese Weise indirekt zu mehr Vertrauen beitragen. 

Ohnehin ist dies womöglich die wichtigste Botschaft, die sich Redaktion immer wieder vergegenwärtigen sollten: In einer Zeit, in der – zurecht und aus Notwendigkeit heraus – viel Energie darauf verwendet wird, Überschriften für Suchmaschinen zu optimieren, Nutzer gezielt und unablässig mit Botschaften zu füttern, um ihre Aufmerksamkeit zu halten, Preismodelle zu optimieren und Verkaufspakete zu schnüren, bleiben die Relevanz, Tiefe und Faktentreue der Inhalte überragend wichtig. Ohne journalistische Qualität ist alles nichts. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 12. Oktober 2022. 

Der mediale Graben: Das Internet vergrößert die Kluft zwischen Informierten und weniger Gebildeten

Journalismus wird zunehmend eine Sache für Oldies, auch der digitale. Das wird in der Analyse des Digital News Report 2022 (DNR) deutlich. Das liegt nicht daran, dass jungen Leuten das Nachrichtengeschehen egal ist. Nur konsumieren die allermeisten von ihnen eher solche Formate, die sich perspektivisch nicht zu Geld machen lassen. Gleichzeitig sind die Verlage auch angesichts der Inflation darauf angewiesen, vor allem ein weniger preissensibles Publikum zu bedienen, das durchaus bereit ist, das eine oder andere zusätzliche Digital-Abo abzuschließen, wenn die Qualität stimmt. Medienmanager und Redaktionsleiter mögen sich wortreich zum Journalismus als vierte Gewalt bekennen; dennoch wird die Konzentration auf zahlungskräftige Zielgruppen zumindest bei den kommerziellen Anbietern Investitionen und Inhalte prägen. 

Die neuen Daten zeigen: Der digitale Graben wächst, und er ist auch ein medialer Graben. Dieser verläuft nicht mehr wie früher nur zwischen mehr und weniger Gebildeten, sondern auch zwischen alt und jung. Nur mit einer gesellschaftlichen Kraftanstrengung wird es gelingen, alle Generationen weiterhin für die Demokratie fit zu machen.

Fünf Beobachtungen, die auf mediale Gräben hinweisen

Der Trend zur journalistischen Klassengesellschaft ist nicht neu, aber er lässt sich anhand des im Juni 2022 erschienenen Zahlenwerks belegen. (Der Report ist die weltweit größte fortlaufende Untersuchung des Medienkonsums, die in diesem Jahr auf einer Online-Befragung von 93 000 Menschen in 46 Ländern beziehungsweise Märkten basiert.) Folgende Erkenntnisse sprechen für die oben dargestellte Interpretation:

Erstens: Die Reichweite von digitalem Journalismus stagniert bestenfalls, der Konsum über Fernsehen, Radio und Zeitung sinkt

Allein in Deutschland ist der Anteil derjenigen, die angaben, in der zurückliegenden Woche eine Zeitung genutzt zu haben, in den vergangenen zehn Jahren von 63 auf 26 Prozent gefallen. Im Fernsehen schauten nur noch 65 Prozent die Nachrichten, 2013 waren es noch 82 Prozent (der deutsche Teil des Reports stammt vom Hans-Bredow-Institut). Gleichzeitig steigt fast überall der Anteil derjenigen, die zu Protokoll gaben, überhaupt keine Nachrichten gelesen oder gehört zu haben. Das bedeutet, dass durch das Internet nicht mehr, sondern eher weniger Menschen mit Journalismus in Berührung kommen. 

Zweitens: Junge Leute konsumieren Journalismus überwiegend in den sozialen Netzwerken

Das wirkt sich auf drei Weisen negativ aus: Erstens gehen Nachrichten und andere journalistische Leistungen im Überangebot an Information und Unterhaltung oft unter. „Der Überfluss an Wahlmöglichkeiten online mag dazu führen, dass sich einige sehr viel seltener mit Nachrichten beschäftigen als in der Vergangenheit“, schreibt Lead-Autor Nic Newman.

Zweitens verstehen die Nutzer die Nachrichten oft nicht, weil sie in der Online-Umgebung aus dem Zusammenhang gerissen sind. Dies ist besonders für diejenigen ein Problem, denen es an Medienbildung mangelt. Aber zusätzlich belegen die Daten eine deutliche Verständnislücke zwischen jüngeren und älteren Nutzern, die sich 2021 auch schon in der deutschen #usethenews Studie abgezeichnet hatte. Der Journalismus verliert also viele, die ihn besonders nötig brauchen.

Drittens, die Medienhäuser sind auf den Plattformen von Meta, Google oder TikTok auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, wieviel Journalismus diese ihren Nutzern in dem algorithmisch getriebenen Angebot überhaupt zumuten wollen. So begründete Joshua Benton vom Nieman Lab der Harvard University kürzlich, warum Facebook das Nachrichtenangebot im Newsfeed womöglich einstellen werde: Die Nutzer schätzen es nicht, und es schafft Probleme. 

Drittens, immer mehr Menschen vermeiden Journalismus bewusst, besonders junge Leute

Redaktionen reden zwar mittlerweile viel über Nutzerorientierung, sie ziehen daraus aber offenbar keine Konsequenzen. Fast jeder zweite Befragte gab als Grund für die Zurückhaltung an, dass die Medien zu viel über Politik und zu viel über die Pandemie berichteten. 36 Prozent bestätigten, Journalismus mache ihnen schlechte Laune, 29 Prozent beklagten das Überangebot oder fanden die Nachrichten voreingenommen. Die Generationen, die nicht mit regelmäßigem Medienkonsum aufgewachsen sind und viele Möglichkeiten zur Ablenkung haben, wenden sich besonders schnell ab.

Viertens: Zahlungsbereitschaft steigt – vor allem geben aber Ältere das Geld aus

Das Durchschnittsalter derjenigen, die ein digitales Abo oder eine Mitgliedschaft bei einer Medienmarke abgeschlossen haben, liegt bei 47 Jahren. Für Verlagshäuser oder öffentlich-rechtliche Fernsehsender mag dies eine gute Nachricht sein: Haben sie es doch im Durchschnitt mit Print-Abonnenten oder TV-Zuschauern zu tun, die das Renteneintrittsalter schon deutlich überschritten haben. Allerdings zerschlagen sich so auch Hoffnungen aus früheren Reports, dass die Spotify- und Netflix-Generation die Branche retten könnte. Eine gute Nachricht gerade für die hiesigen Regionen ist, dass viele Befragte vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Bereitschaft dokumentiert haben, zusätzliche Abos auch unabhängig der Inflationssorgen abzuschließen. Dies ging auch aus Gesprächen in Fokus-Gruppen hervor, die die Oxford-Forscher in ihre Analysen einfließen lassen. Gerade in diesen Zeiten von besonderen Krisen und Belastungen sei es notwendig, gut informiert zu sein, so einige Stimmen. 

Fünftens: Jene Formate, die Loyalität schaffen, wie zum Beispiel E-Mail-Newsletter, werden vor allem von älteren, finanzkräftigen und gebildeten Lesern genutzt, die ohnehin schon ein hohes Interesse an Journalismus haben

Während zum Beispiel in den USA 15  Prozent der über 55-Jährigen angeben, Newsletter seien ihre wichtigste Nachrichtenquelle – allein die New York Times produziert 50 verschiedene, die wöchentlich von 15 Millionen Menschen gelesen werden –, sind es nur drei Prozent der 18- bis 24-Jährigen. Newsletter sind so etwas wie das neue Print statt das erhoffte Wundermittel.   

Die Schlussfolgerung

Ob man das mag oder nicht: Aus all diesen Daten folgt, dass sich die Verlage auf ältere und finanziell besser gestellte Gruppen konzentrieren müssen, wenn sie ihr eigenes Überleben sichern wollen. Von diesen sind die höchste Zahlungsbereitschaft und Loyalität zu erwarten. Fragt man in Medienhäusern nach, wen sie genau meinen, wenn sie von jüngeren Nutzern sprechen, bestätigt sich dieses Bild. Verlage verstehen unter „jung“ eher die Altersgruppe ab 35 Jahren aufwärts. Von noch Jüngeren sei nicht viel zu erwarten, heißt es dann. 

Anders sieht das in den öffentlich-rechtlichen Häusern aus. Ihr Fortbestand ist davon abhängig, dass sie von allen wahlberechtigten Altersgruppen als wichtig und unterstützenswert empfunden werden. Deshalb ist ihre Sorge besonders groß, wenn sie bei den unter 25-Jährigen nicht punkten.

Die Sender haben zwar den Vorteil, dass sie unbeschwerter als die kommerziellen Anbieter digitale Formate für soziale Netzwerke entwickeln können, weil sich nicht jedes ihrer Angebot auf TikTok oder Instagram umgehend in Abos auszahlen muss. Allerdings spüren sie den Reichweiten-Verlust besonders drastisch. Es ist deutlich herausfordernder, auf den von Smartphone-Nutzung dominierten digitalen Plattformen Gewohnheitsonsumenten heranzuziehen, als dies in der alten Welt von Fernsehen und Radio der Fall war. „Die jüngsten Kohorten sind eher gelegentliche und weniger loyale Nachrichtenkonsumenten. Es fällt Medienhäusern sehr schwer, sie zu gewinnen, weil sich die Jungen auf soziale Netzwerke verlassen und nur schwach an Marken gebunden sind“, schreibt die Oxford-Forscherin Kirsten Eddy. 

Was heißt all das für die Demokratie, die aufgeklärte, informierte und engagierte Bürger braucht? Soll der mediale Graben zumindest teilweise überbrückt werden, haben die öffentlich-rechtlichen und alle anderen nicht-kommerziellen Anbieter eine herausragende Verantwortung vor allem jungen Generationen gegenüber. Aber auch diejenigen Redaktionen, die von Abo-Einnahmen abhängig sind, können etwas tun. Sie sollten sich mehr mit den Bedürfnissen potenzieller Nutzer beschäftigen, und zwar auch mit denen jener, die sie früher nur zu gerne ignoriert haben. Das sind zum Beispiel Frauen oder Menschen aus Einwanderer-Familien, die sich in der Standard-Nachrichtenwelt nicht repräsentiert gefühlt haben. Sie sollten die seit vielen Jahren vorliegenden Erkenntnisse zu den Journalismus-Vermeidern endlich ernst nehmen und die traditionelle, Zitate-getriebene Politik-Berichterstattung zugunsten anderer Inhalte produzieren – am besten konstruktiv und investigativ. Und sie sollten ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten und leicht verständliche Erklär-Formate entwickeln, die kostenfrei zugänglich und auf den Konsum in sozialen Netzwerken ausgerichtet sind.

Übrigens ahnen die Nutzer, dass dem Journalismus eine weitere Kommerzialisierung bevorsteht. Laut DNR traut nur etwa jeder Fünfte (19 Prozent) den Redaktionen zu, als allererstes im Interesse der Gesellschaft zu arbeiten. 42 Prozent beziehungsweise 40 Prozent gaben dagegen an, die Verlage stellten ihre finanziellen oder politischen Interessen in den Mittelpunkt ihrer Strategie. Es ist an den Medienhäusern, diese Skeptiker vom Gegenteil zu überzeugen.   

Diese Kolumne erschien am 21. Juni 2022 bei Medieninsider. Dort schreibt Alexandra regelmäßig zu aktuellen Branchen-Themen.