Wiedervorlage für Chefredaktionen: ein Merkzettel (nicht nur zu Jahresbeginn)

Sich zum neuen Jahr eine Liste an Dingen vorzunehmen, ist zurecht etwas aus der Mode gekommen. Schließlich lehrt die Erfahrung, dass die wenigsten dieser Projekte den Januar überleben – und hätte man sie nicht längst in Angriff genommen, wenn sie einem wirklich wichtig wären? Eine Kolumne über Vorsätze zu schreiben, ist erst recht gewagt, denn Journalisten wollen in der Regel noch weniger belehrt werden, als sie das von ihrem Publikum annehmen. Deshalb veröffentlichen die meisten Branchen-Publikationen lieber Prognosen. Das klingt nach intellektuellem Mut, Weitblick und Fachkenntnis, und wenn es dann nicht klappt wie vorhergesagt, hat man sich halt geirrt. 

Anders als verpuffende Vorsätze hat das Irren keinen Beigeschmack von mangelnder Willenskraft. Allerdings gibt es ein paar Dauerbrenner in der Medienbranche, die – wenn schon nicht auf eine Vorsätze-Liste – wenigstens auf einen Merkzettel gehören, den leitende und leiten wollende Menschen in Redaktionen und Verlagen 2024 ab und an mit der Wirklichkeit abgleichen können. Hier sind ein paar Vorschläge:

Erstens: Immer an die Strategie denken

Egal ob es um künstliche Intelligenz geht, um inhaltliche Schwerpunkte, um Investitionen in Technik, Personal oder Plattformen: Die Zahl der Möglichkeiten übersteigt grundsätzlich jene der Projekte, die mit Blick auf die Ressourcen möglich und mit Blick auf die Zielgruppen nötig sind. Nur wer eine Strategie hat, kann sinnvoll sortieren und steuern. Eine solche Strategie beantwortet mindestens diese Fragen: Warum existiert meine Organisation? Für wen existiert sie? Wie erreichen wir ihre Ziele? Und: Wie messen wir Erfolg? 

Alle neuen Vorhaben sollten die Strategie stützen. Wer keine hat, läuft Gefahr, sich von Beratern oder selbsternannten Innovatoren sinnlose Investitionen aufschwatzen zu lassen, Erfolgsrezepte anderer ohne Blick auf die eigenen Besonderheiten zu kopieren, stets dem nächsten shiny new thing nachzujagen und damit alle an den Rand des Wahnsinns oder in die Kündigung zu treiben. 

Zweitens: Der KI-Hype ist real, aber KI ist es auch

Was künstliche Intelligenz angeht, kristallisieren sich derzeit grob gesagt drei Gruppen heraus: Die einen reiten auf der Höhe der Hype-Welle und prognostizieren das Ende des Journalismus, wie wir ihn kennen. Die vom anderen Extrem betrachten KI als Werkzeug zur Effizienzsteigerung, mehr nicht. Dazwischen gibt es jene pragmatischen Optimisten, die hoffnungsvoll, engagiert und dennoch besonnen experimentieren, das Ende des Hypes herbeisehnen und dabei heimlich hoffen, dass alles nicht so schlimm kommt, wie es Gruppe eins prognostiziert. 

In dem im Dezember erschienenen Reuters-Report Changing Newsrooms 2023, der auf einer nicht repräsentativen, internationalen Umfrage unter Medien-Führungskräften beruht, gab nur ein Fünftel der Befragten an, dass generative KI die Prozesse im Journalismus fundamental verändern wird, etwa drei Viertel prognostizierten keinen grundlegenden Wandel. Da erfahrungsgemäß nur besonders engagierte Manager auf solche Umfragen antworten, lässt sich aus diesem Ergebnis eine gewisse Lethargie ableiten, von der auf den entsprechenden Konferenzen, bei denen sich immer dieselben Spezialisten treffen, wenig ankommt. 

All jenen, die schon zu viele Hypes haben kommen und gehen sehen und erst einmal abwarten wollen, sei jedoch ans Herz gelegt, dass die auf großen Sprachmodellen (LLMs) basierende KI tatsächlich eine strukturverändernde Umwälzung ist. 

Überschwang hin oder her, wer jetzt nicht an Regeln zu Transparenz, Datenschutz, Copyright oder Bildbearbeitung arbeitet, bekommt die Geister, die sich gerade entwickeln, irgendwann nicht mehr in die Flasche zurück. Nach gegenwärtiger Faktenlage wird generative KI den Journalismus grundlegend verändern. 

Drittens: Weiterbildung kostet, keine Weiterbildung kostet mehr 

Die Digitalisierung und der damit verbundene Wandel von Verhalten und Präferenzen haben Redaktionen und Verlagen reihenweise Veränderungen abverlangt. Dennoch gibt es immer noch Kollegen, die diese Herausforderungen weiträumig umfahren. Spätestens der Einzug der KI wird dies unmöglich machen. Von der Investigativ-Reporterin bis zum Desk-Redakteur: Alle werden anders arbeiten müssen. Weiterbildung wird deshalb wichtiger denn je (dazu auch meine 2024 Prognose für das Nieman Lab). Der digitale Graben innerhalb von Redaktionen müsse geschlossen werden, sagt Anne Lagercrantz, Vize-Intendantin des schwedischen Fernsehens. Dabei geht es um mehr als um formelle Trainingsangebote. Ein Kulturwandel ist nötig. Medienhäuser müssen lernende Organisationen werden. Das klappt nicht per Anordnung von oben, als „Change a la Chef“. Es geht um ständiges Ausprobieren, Messen von Erfolgen, Reflektion, Nachsteuern. Kommen interdisziplinäre Teams in den Veränderungs-Rhythmus, kann das Spaß machen. Und sind die Selbsthilfe-Techniken erlernt, lassen sich teure Berater sparen.

Viertens: Mit Vielfalt allein lässt sich nicht viel erreichen

Es ist beschämend, aber nach Jahren der Diskussion gehört das Thema Vielfalt auch in diesem Jahr auf Wiedervorlage. Klar, es gibt erhebliche Fortschritte, vor allem bei den Karrierechancen für Frauen in Medienhäusern. In der bereits oben zitierten Studie des Reuters Institutes geben neun von zehn Medienmanagern an, ihr Haus mache bei der Gleichstellung der Geschlechter einen guten oder sehr guten Job. Etwas weniger Selbstbewusstsein zeigten die Führungskräfte, wenn es um andere Vielfaltskriterien geht, zum Beispiel ethnische, soziale oder politische Diversität. Aber in Wahrheit hat sich in vielen traditionellen Häusern noch nicht allzu viel gedreht, weder bei der Vielfalt in wichtigen Positionen noch bei der Ansprache des Publikums. Dabei ist die Breite und Tiefe der Perspektiven Voraussetzung für eine gelungene digitale Transformation, die Zielgruppen passgenau bedient. 

In Abgründe blicken lässt ein – zugegeben etwas beleidigter – im Dezember erschienener Essay des ehemaligen Meinungschefs der New York Times im Economist. Nach seiner Einschätzung hat die Unfähigkeit des Hauses, Vielfalt in der Führungsetage durchzusetzen, zu einer internen Polarisierung geführt, die ein breites Meinungsspektrum nicht mehr zulasse. Vielfalt kann eben nur nach außen wirken, wenn unterschiedliche Menschen intern wertschätzend miteinander umgehen, sich gegenseitig zuhören und einfach mal machen lassen.

Fünftens: Alle reden von Nutzerbedürfnissen, aber Schablonen funktionieren selten

Nachdem Kundenorientierung in anderen Branchen seit der Geburt der Marktwirtschaft Erfolg verspricht, haben das neuerdings auch Redaktionen verstanden. Nutzerbedürfnis-Modelle, maßgeblich entwickelt und vorangetrieben vom ehemaligen BBC-Mann Dmitry Shishkin, der künftig das internationale Geschäft von Ringier als CEO anführt, sind in Deutschland nicht zuletzt wegen des Drive Projekts der DPA und der Unternehmensberatung Schickler populär geworden. Es fällt allerdings auf, dass sich viele Redaktionen, die nun versuchen, ihr Angebot an den Bedürfnissen der Nutzenden auszurichten, immer noch streng am ursprünglichen BBC-Modell orientieren. Das ist in Ordnung, um von der Fixierung auf das mit Breaking News assoziierte Update me-Bedürfnis wegzukommen. Aber tatsächlich hat nicht nur jedes Medium eine ganz eigene Nutzerstruktur, sondern jede Zielgruppe tickt anders, jedes Ressort bedient verschiedene Bedürfnisse. 

Shishkin hat das Modell deshalb längst weiterentwickelt – und das sollten Redaktionen auch tun. Was brauchen die Leser, Hörer, Zuschauer wirklich von einer bestimmten Marke? Man könnte sie mal fragen – oder einfach im Alltag beim Lösen ihrer Probleme beobachten, wie dies der leider verstorbene Clayton Christensen schon 2012 vorgeschlagen hatte. Er hätte sich zum Beispiel kaum darüber gewundert, dass die NYT einen Teil ihres digitalen Erfolgs dem Verkauf von Kochrezepten verdankt.

Sechstens: Wer Klimajournalismus kann, kann Journalismus

Im Journalismus ist wohl wenig herausfordernder, als spannend, faktentreu, gut verständlich und anschaulich über alle Facetten des Klimawandels und die Lösung der damit verbundenen Probleme so zu berichten, dass das Publikum dabei bleibt. Dies liegt daran, dass das Thema sich langsam entwickelt, polarisiert, in vielen Menschen Schuldgefühle und deshalb Verdrängungsmechanismen auslöst. Das heißt aber auch: Wer dieses schwierige Fach beherrscht, dem kann man praktisch alle journalistischen Aufgaben zutrauen. So zumindest lautet das Fazit des EBU News Reports Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact, der 2023 veröffentlicht wurde (ich war Lead Autorin). Der Klimajournalismus ist als Spielfeld geeignet, um sich mit Nutzerbedürfnissen zu befassen, Strategie zu entwickeln, mit neuen Formaten für diverse Zielgruppen zu experimentieren und aus Fehlern zu lernen. Aus diesem Grund lohnt sich die Investition. Am Ende des voraussichtlich wärmsten Jahres seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen kann man sagen: starker Klimajournalismus und Nachhaltigkeitsstrategien sind ein Muss für Medienhäuser und Filmproduktionen. Auch das Publikum erwartet das.                   

Siebtens: Dinge sein zu lassen ist ein Muss – immer 

Wer sich in diesem Text bis hierher vorgearbeitet hat, kann jetzt Erleichterung empfinden – oder das Gegenteil. Die Coaching- und Beratungspraxis zeigt: Stop doing, das strategische Ausmisten, Seinlassen, Herunterfahren von Aktivitäten gehört zu den größten Herausforderungen für viele Redaktionen und Verlage. Das liegt daran, dass überall Ideen und Innovationen gefeiert werden, das Abschaffen von liebgewonnenen Routinen und Praktiken aber eher Widerstand hervorruft oder schlechte Laune macht – die dann den Überbringer der Botschaft trifft. Denn viele Menschen beziehen ihren Status und damit ihre Sicherheit aus Aktivitäten, die streng genommen niemand mehr braucht. Deshalb lässt man sie stillschweigend weitermachen. Dabei ist Stop Doing wichtig. Es setzt Energien und Ressourcen frei, verleiht der Arbeit Fokus und stützt damit die Strategie. Strukturiertes Ausmisten verlangt, dass man die entsprechenden Mitarbeitenden und ihre Rollen versteht, um sie idealerweise in neue Aufgaben zu coachen. Preise gewinnt damit niemand. Aber nur wer Stop Doing beherrscht, kann beim Doing richtig glänzen.   

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 5. Januar 2024.

Zurück in die 90er: Warum sich auch Entscheider-Briefings mit Nutzerbedürfnissen beschäftigen sollten

Der Entscheider muss ein seltsames Wesen sein. Seine Diät ist einseitig, dafür aber reichhaltig. Er ist ein Mensch der Wörter, ja, er liebt das digital gewordene Blei. Er schätzt Verlässlichkeit, Überraschungen sind nicht sein Ding. Bescheid wissen über das Berufliche scheint sein Leben zu sein. Vermutlich ist er ein Mann. 

Dieser Eindruck kann beim Blick auf jene journalistischen Produkte entstehen, die speziell für die so genannten Entscheider aufgelegt sind und sich derzeit rasant verbreiten. Ihre Schöpfer treibt eine gemeinsame Motivation an: Sie betrachten den Entscheider als ein Wesen mit Geld.  

Das Newsletter-Menü von Table Media, das Hauptstadt Briefing von Pioneer Media, das neue Dossier der Süddeutschen Zeitung und das erwartete deutsche Politico: Es sind einige der einheimischen Kreationen, in denen Menschen wie Table-Gründer Sebastian Turner das womöglich einzige aus sich selbst heraus profitable Geschäftsmodell für Journalismus sehen: Fachleute erklären Fachleuten die Welt. Domänenkompetenz oder Deep Journalism nennt Turner das. Gemeinsam mit dem Journalistikprofessor Stephan Russ-Mohl hat der ehemalige Herausgeber des Tagesspiegels sogar ein Buch mit diesem Titel herausgegeben*. Gegen dessen Kernbotschaft, dass Journalisten etwas von der ihnen anvertrauten Materie verstehen sollten, kann man definitiv nichts einwenden. Aber es geht nicht um Einnahmen allein.

Problemfall Politikjournalist

Vor allem die um Berlin, Brüssel oder andere Machtzentren kreisenden Briefings werden erstellt von einer Spezies an Politikjournalisten, die zunehmend ungehalten auf kaum noch überhörbare Botschaften aus ihren Redaktionen reagieren. Deren Tenor: Viele ihrer Geschichten aus dem Inneren des Apparats begeistern zwar deren Protagonisten, bei gewöhnlichen Lesern lösen sie aber den gefürchteten Scroll-Reflex aus. Das heißt: Sie hangeln sich so lange an den Teasern entlang, bis sie etwas finden, das sie wirklich interessiert. Der Einzug der Metriken in die Inhalte-Steuerung hat vor allem eine Erkenntnis hervorgebracht: Der traditionelle politische Journalismus, vor allem jener der „die hat gesagt, der hat gesagt“-Variante interessiert das Publikum so wenig wie Ostereier im Advent. Er bringt selten Klicks und Abos ohnehin nicht. 

Neuerdings führen viele Häuser zudem so genannte User-Needs-Modelle ein. Und auch da kann der klassisch-informationsschwangere Politikjournalismus wenig glänzen. Erspart uns eure ewigen Updates, heißt es plötzlich vom Desk. Unsere Nutzer wollen mehr Erklärung, Unterhaltung, Inspiration, Emotion. Spätestens, wenn die Redaktionsleitung dann noch ein Seminar zum konstruktiven Journalismus besucht hat und gerne mehr Perspektive, Lösungen, gar Hoffnung herbeirecherchiert haben will, versteht der in Polarisierung geübte Politikjournalist die Welt nicht mehr. War er gestern noch die Nummer eins, segelte auch mal durch bis in die Chefredaktion, gilt er heute vielerorts als Problemfall, der umlernen muss.

Kein Wunder, dass die neuen Briefings Magnete für jene geworden sind, die sich in ihren Haupthäusern seltsam heimatlos vorkommen. Bei den Spezial-Newslettern darf man wieder „richtigen Journalismus“ machen. So sehen das wohl viele. Und so wirkt auch so manch ein Briefing wie eine Rolle rückwärts in den Journalismus der Neunzigerjahre. Man könnte auch sagen: Endlich wieder mehr FAZ wagen. 

Spätestens hier muss ein Disclaimer kommen: Natürlich ist es vollkommen richtig, sich über Zielgruppen Gedanken zu machen, es ist sogar zwingend. Und umso besser, wenn die angepeilten Zielgruppen auch zahlen können. Und selbstverständlich hat jedes der Briefings seine ganz eigenen Stärken und Schwächen. Aber der Journalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt, und das hat Gründe.

Ja, da war diese Digitalisierung. Aber damit einher ging auch die Erkenntnis, dass nicht alle (erfolgreichen) Menschen weiße, gebildete Männer sind. Und dass selbst weiße, gebildete Männer auch andere Bedürfnisse haben, als tagein, tagaus an den Lippen ihrer politischen Repräsentanten, CEOs, oder als solchen ausgewiesenen großen Denkern zu hängen. Sie sind Väter, Liebespartner, Hobby-Köche, Mountainbike-Fans und dabei umgeben von Frauen, deren Lebenswirklichkeit als Managerinnen, Richterinnen und Ingenieurinnen sie durchaus interessiert. Hinzu kommen all jene Kollegen mit Einwanderungsgeschichte, verschiedener sexueller Orientierung, körperlichen Beeinträchtigungen, die sich in dem tatsächlich schon früher an finanzkräftige Entscheider gerichteten Einheitsjournalismus nur höchst selten wiederfanden. All das hatte zur Folge, dass Medien vielfältiger geworden sind – nach innen und immer häufiger auch sichtbar nach außen.

Auch nicht der Entscheider lebt allein von Information

Nicht jedes Briefing hält da mit. Das ist nur konsequent, denn sein Ziel ist nicht Vielfalt sondern die Bubble. In der möchte man Wortführer werden, wie dies lange Zeit nur die Großen vom Schlage Financial Times oder FAZ gewesen sind. Man kennt sich, und man schreibt für diejenigen, die man kennt über das, was sie eigentlich schon kennen – nur vielleicht nicht im Detail. So ein Briefing wird dann zu einer Art Heimathafen, ein vertrauter Ort, an dem alles seinen Platz hat, wie früher in der Tageszeitung, als deren Welt noch in Ordnung war. Das kann ein Geschäftsmodell sein, auch wenn es zunehmend lebhaft werden dürfte im Hafen-Wettbewerb.

Doch Konzepte wie jenes der Domänenkompetenz verkennen: Der Mensch lebt nicht von Information allein – nicht einmal der Entscheider. Was das User-Needs-Modell für den allgemeinen Nutzer feststellt, gilt schließlich auch für jenen mit Bubble-Nähe. Er möchte Nachrichten, das schon. Aber womöglich plagen ihn Fragen, für die er Erklärungen sucht, Probleme, die gemanagt oder gelöst werden wollen. Und an dieser Stelle sind Journalisten nicht nur als Fakten-Rechercheure, sondern auch als Bedürfnis-Forscher gefragt. 

Brauchen die Adressaten wirklich den x-ten Terminkalender der Woche, oder interessiert sie womöglich mehr, wie sich ein Shitstorm verkraften, das Amt mit Familienaufgaben vereinbaren oder eine klare Wahlkampf-Botschaft formulieren lässt? Enthält der Newsletter genug frische Luft, sprich Ideen von außen, Köpfe jenseits des eingeschwungenen Zirkels? Ist er, ja, vielfältig genug? Schaut er auch mal über die Grenzen hinweg, beleuchtet Erfolgsgeschichten aus anderen Teilen der Welt? Gerade diejenigen, die neue Produkte entwickeln, müssen sich all den Themen stellen, die den Veränderungsgeist in Redaktionen beflügelt und so manch eine Verwerfung ausgelöst haben. Wer sich in alte Rituale flüchtet, wird irgendwann nur noch alt aussehen. Und das ist garantiert kein Geschäftsmodell.  

*Sebastian Turner, Stephan Russ-Mohl (Hrsg.) 2023, Deep Journalism – Domänenkompetenz als redaktioneller
Erfolgsfaktor, Herbert von Halem Verlag. Alexandra Borchardt hat einen Essay dazu beigetragen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. November 2023

Zwischen Energieschub und Datensalat: So klappt das mit den Redaktionsmetriken

Was nicht gemessen wird, wird nicht erledigt. In den Künstlerflügeln von Redaktionen mag diese alte Weisheit aus der Wirtschaftswelt noch immer nach kleinkarierter Controller-Denke klingen. Aber mit dem Generationswechsel in den Verlagshäusern hat sich selbst unter Journalisten die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich mit Hilfe von Kennzahlen nicht nur jenes Wachstum treiben lässt, das die eigenen Arbeitsplätze sichert. Daten übermitteln auch Signale, ob die Verbindung zu den Menschen noch stimmt. Metriken sind selbstverständliche Begleiter des Redaktionsalltags geworden. Allerdings gehen Meinungen und Erfahrungen dazu weit auseinander, was denn nun gemessen werden kann und vor allem, was davon an wen kommuniziert werden sollte.

Martin Baron, ehemaliger Chefredakteur der Washington Post, beschreibt in seinem neuen Buch Collision of Power einerseits, wie er immer ungehaltener wurde angesichts der von ihm bei Kollegen beobachteten „absichtlichen Ignoranz dessen, was nötig ist, um ein gesundes Geschäft zu führen, des selbstgerechten Moralisierens und der reflexhaften Opposition gegen das Durchsetzen von Verhaltensstandards, selbst solcher, denen die Mitarbeiter bei ihrer Einstellung zugestimmt hatten“. 

Andererseits erzählt er auch vom Widerstand gegen Metriken, mit denen WaPo-Eigentümer Jeff Bezos die Redaktion antreiben wollte – zum Beispiel die Vorgabe, dass bestimmte Texte innerhalb von 15 Minuten umgeschlagen werden sollten als wären sie Amazon-Päckchen. Baron schreibt, er habe in seiner Karriere meist gedacht, „dass Verleger und ihre Business-Teams nicht begriffen hatten, welche Mühe und welche Ressourcen notwendig sind, um Qualitätsjournalismus zu produzieren – und dass ihre Metriken mit gelegentlichen Ausnahmen Bullshit waren“.

Unter dem Strich aber, so klingt es durch, hatten die neuen Strategien und Standards, die Bezos einforderte, die Redaktion eher beflügelt. Das wird zum Großteil daran gelegen haben, dass der Multimilliardär kräftig in Personal und Technik investierte. Das wird derzeit zwar teilweise wieder rückabgewickelt, allerdings arbeiten viele wohl jeder lieber in einer Organisation, in der Leistung intern und extern gesehen und in der an Zukunft gebastelt wird, statt die Gegenwart zu verwalten. Wie ein Fitnessarmband können Metriken die Motivation ordentlich treiben, wenn sie richtig gesetzt werden. Damit das klappt, sind einige Grundsätze hilfreich. Hier sind fünf Punkte, wie es mit den Metriken funktioniert.

Erstens: Den eigenen Weg finden 

Verlage suchen gerne anderswo nach Erfolgsgeschichten und hoffen, sie kopieren zu können. Das gelingt allerdings nur bedingt. Kaum ein Haus ist vergleichbar mit der New York Times, deren Führungskräfte auf Branchenkonferenzen umlagert werden. Auch kleinere skandinavische Marken eignen sich nur eingeschränkt als Vorbilder – wenngleich deutsche Verlage allzu gerne in die Nordländer schauen, wo die Zahlungsbereitschaft für Digitalabos am höchsten ist. Jeder Verlag muss zunächst eine Strategie für seinen Journalismus und Geschäftsmodelle entwickeln, die zum eigenen Markt und zur Marke passen. Erst dann folgen die Metriken, die diesen Wachstumspfad flankieren. Ansonsten liefen Redaktionen Gefahr, ihren Journalismus den gesetzten Metriken anzupassen, anstatt sie so zu setzen, dass sie dem Journalismus dienten, schrieb Elisabeth Gamperl in einem 2021 erschienenen Report für das Reuters Institute. Das Papier, für das die SZ-Journalistin datenaffine Redaktionsmanager von Medienhäusern wie The Guardian, The Times, Globe and Mail, and Dagens Nyheter interviewt hatte, enthält einige wertvolle Ratschläge dazu, wie das gehen kann.  

Zweitens: Die Redaktionskultur beachten und entsprechend kommunizieren

Redaktionen sind unterschiedlich. Das betrifft nicht nur den Grad der Digitalisierung und das allgemeine Datenverständnis, sondern auch die Kommunikations- und Fehlerkultur. Während zum Beispiel beim schwedischen Dagens Nyheter jeder Journalist jederzeit am eigenen Bildschirm die Erfolge und Misserfolge aller Kollegen abrufen kann, sind hierzulande viele Verlage sehr darum bemüht, solche Auswertungen nur individuell oder sehr dosiert zu verteilen – vor allem um Redakteure und Betriebsräte nicht gegen sich aufzubringen. Eine leitende Redakteurin einer Regionalzeitung erklärte es in einem Workshop jüngst so:  „In den Konferenzen kommunizieren wir nur die Erfolge, die Fehler werden individuell besprochen.“. Oft gehen die gesammelten Datensätze nur an Führungskräfte. Eine Redaktion, die stolz auf ihren investigativen Journalismus ist, fühlt sich womöglich demotiviert von Hitlisten, in denen stets Service-Texte dominieren. Ebenso verwirrend kann es sein, wenn das leitende Personal ständig über Klickraten jubelt, obwohl Aboabschlüsse das Ziel sind. Solche „Eitelkeitsmetriken“, wie Medienforscher Nic Newman sie nennt, mögen legitime Kosmetik für Präsentationen vor der Geschäftsführung sein, lenken aber vom Ziel ab. Natürlich können sich Redaktionskulturen auch wandeln. Aber solche Veränderungsfreude entfachen nur Führungskräfte, die konstruktiv kommunizieren können und nicht solche, die Metriken als Mittel des Prinzips „teile und herrsche“ einsetzen. Schließlich sollten Daten vor allem dazu eingesetzt werden, aus den verfügbaren Ressourcen mehr zu machen. Kaum ein Journalist produziert gerne allein für das Redaktionsarchiv.      

Drittens: Simpel bleiben 

Die wirkungsvollsten Metriken sind jene, die jeder versteht. Noch besser sind sie, wenn Kollegen daraus ableiten können, was jetzt zu tun ist. Das klingt simpel, wird aber nicht überall so gesehen. Sehr oft werden die Redaktionskennzahlen von Datenanalysten entwickelt, die sich nicht vorstellen können, dass sich vielen Redakteuren die Schönheit einer Excel-Tabelle nicht erschließt. Die Folge sind komplizierte Formeln, die nur Eingeweihte deuten können. Einige Redaktionen beweisen Mut zur Lücke und trimmen ihre Kollegen darauf, zum Beispiel nur auf die täglich eingeloggten Abonnenten zu schauen – ein Zeichen dafür, ob die Nutzerloyalität und damit die Abohaltbarkeit stimmt. Andere wiederum entwickeln aus einer Kombination von Metriken einen Wert, den es im Auge zu behalten gilt. Die  Financial Times zum Beispiel hatte es mit ihrer „R x F x V“-Formel (Recency, Frequency, Volume) geschafft, die Zahl ihrer Digitalabonnenten binnen zehn Jahren auf über eine Million zu verzehnfachen. Aber selbst das mag manch einem zu kompliziert sein. Da hilft nur einfach starten und langsam steigern – und aufpassen, dass man nicht doch irgendwann mit Datensalat endet.  

Viertens: Veränderungen nicht scheuen

Da hat man die Redaktion nun endlich für Daten erwärmt, sind alle gespannt auf die „Conversions“ wie auf das tägliche Päckchen im Adventskalender – und plötzlich soll man verkünden, dass man von nun an auf die zehn Texte vor dem Aboabschluss schauen wird? Kein Redaktionsmanager gibt gerne zu, dass eine Metrik ihr Ziel verfehlt. Doch der Weg zu funktionierenden Kennzahlen ist anstrengend und führt in manche Sackgasse. Die klarsten Metriken nutzen nichts, wenn sie ein Klima erbitterter Konkurrenz oder gar Angst forcieren oder sich als letztlich sinnlos erweisen. Danny Gawlowski von der Seattle Times kann wunderbar vom Ringen der Redaktion um die richtigen Werte erzählen. Dort hat man ein Verfahren etabliert, bei dem Redakteure sich nicht untereinander vergleichen, sondern nur gegen sich selbst antreten: Wer die gleiche Aufgabe hat, muss idealerweise 15 Prozent besser abschneiden als im Jahr zuvor. Jemand, der über Opern schreibt, könne sich unmöglich mit jemandem messen, der das örtliche Football-Team begleitet, so Gawlowski. Aber ein bisschen sportlichen Ehrgeiz sollten auch die Kulturkollegen mitbringen.

Fünftens: Von Ausreißern lernen

Wo Daten ausgewertet werden, geht es oft ums Große. Man schaut auf Häufungen, Volumen, die Top-Performer. Manchmal sind aber gerade die Ausreißer wichtige Signale dafür, was gegen jeden Instinkt funktioniert oder an welchen Schrauben man drehen könnte. Schneidet ein Stück zu einem Thema herausragend ab, das sonst als eher schwer verkäuflich gilt, mag das ein Zufall sein. Wahrscheinlicher aber ist, dass es eine Ursache gibt. Vielleicht war die Sendezeit richtig gewählt, vielleicht hat der politische Kontext gestimmt, möglicherweise klang auch die Überschrift ungewöhnlich emotional oder eine Protagonistin ist ein Star in den sozialen Netzwerken. Es sei gut investierte Zeit, nach positiven Überraschungen zu fahnden, habe Jeff Bezos der Redaktion mitgegeben, so Baron. Sei etwas erfolgreich, ohne dass man es bewusst forciere, liege da womöglich eine Chance.

Ohnehin müssen laut dem Amazon-Gründer auch gute Regeln manchmal gebrochen werden. Bei einer Mitarbeiterversammlung der Washington Post sagte er laut Baron: „Manche Dinge sind so schwer zu messen, dass du […] sie nicht wirklich messen kannst und Bauchgefühl und Intuition nutzen musst. Und dann gibt es andere Dinge, die über den Metriken stehen. Das sind Prinzipien, die dir so wichtig sind, dass du ihnen folgen musst, selbst wenn die Metriken dir das Gegenteil nahelegen.“ Was diese Prinzipien oder – besser – Werte sind, muss jede Redaktion für sich festlegen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 30. Oktober 2023.

Verlockt, verwöhnt, verbunden: Mit dieser Preispolitik erobern Verlage die Herzen ihrer Kunden

Wer viel unterwegs ist, hat sich längst daran gewöhnt, dass Preise nicht nur von der Qualität des Produkts abhängen: Airlines verkaufen ihre Tickets je nach Nachfrage, bei Booking.com zahlen Smartphone-Nutzer und loyale Kunden günstigere Raten für Hotelzimmer, an der Tankstelle steht manchmal ein anderer Liter-Preis an der Zapfsäule als der, den man noch vor ein paar Minuten an der Einfahrt gesehen hatte. Und womöglich wird zukünftig auch die Kneipe zu einer Art Bier-Börse: „The rise of surge pricing: It will eventually be everywhere“, betitelte die Financial Times kürzlich eine größere Recherche, nachdem eine britische Pub-Kette angekündigt hatte, zu Stoßzeiten mehr fürs Bier zu verlangen. 

In der Medienbranche halten sich die flexiblen Preismodelle noch in Grenzen, aber es gibt sie: Die New York Times verlangt für das Abo in Europa deutlich weniger als auf dem Heimatmarkt. Andere Marken wie der zur schwedischen Bonnier-Gruppe gehörende Dagens Nyheter arbeiten mit dynamischen Bezahlschranken, die hochgezogen werden, sobald ein Text häufig und ausführlich gelesen und geteilt wird, die Nutzer ihn also als besonders attraktiv bewerten. Außerdem scheinen Abos zuweilen Verhandlungssache zu sein. Nic Newman und Craig Robertson vom Reuters Institute in Oxford bezeichnen es als eines der erstaunlichsten Erkenntnisse einer auf Deutschland, die USA und Großbritannien fokussierten Studie, welche Bandbreite an Abo-Preisen verschiedene Nutzer für ein und dasselbe Produkt zu zahlen scheinen. Die Untersuchung Paying for News: Price-Conscious Consumers Look for Value amid Cost-of-Living Crisis erschien im September 2023.

Flexible Preise sind kein „No Go“ mehr

Flexible Preise galten lange als „No-Go“. Aber womöglich ist es nur fair, dass diejenigen mehr für ein Produkt zahlen, denen es mehr bedeutet. Angesichts der rasant wachsenden Möglichkeiten künstlicher Intelligenz ist es absehbar, dass sich in verschiedensten Branchen Preismodelle durchsetzen werden, die berücksichtigen, wann, wie häufig, wie intensiv und von welchem Endgerät aus ein Nutzer auf bestimmte Produkte und Dienstleistungen zugreift. Verlage sind also gut beraten, schon jetzt mit Kreativität an die Sache zu gehen. Denn zwischen Paywall, Mitgliedschaften und dem unbegrenzt kostenlosen Zugriff gibt es noch eine Reihe von flexiblen Möglichkeiten. Wichtig ist allerdings, dass man sich über seine Strategie und Zielgruppen im Klaren ist – und die darf man getrost differenzieren.

Die New York Times zum Beispiel wird für die wenigsten Menschen in Übersee beim Abo-Abschluss erste Wahl sein, anders als in ihrem Kernverbreitungsgebiet rund um New York City. Es ist nur logisch, dass der Verlag nicht allen Kunden den gleichen Preis anbietet. Der Guardian verzichtet ganz auf Bezahl-Zwang, weil sich die Geschäftsführung darauf verlassen kann, dass ein beträchtlicher Teil des politisch eher links engagierten Publikums aus moralischer Verpflichtung freiwillig für den Journalismus zahlt und ihn auch anderen zugänglich machen möchte. Fast nirgendwo anders funktioniert dieses Modell so gut wie dort.  

Eine vielversprechende Mischform ist der Text zum Verschenken. Schon jetzt erlauben viele Medienmarken ihren Abonnenten, Beiträge mit einer begrenzten Anzahl von Nutzern zu teilen. Für das dänische Journalismus-Portal Zetland ist das ein Erfolgsprinzip: Abonnenten dürfen Geschichten unbegrenzt oft verschenken. „Journalismus funktioniert als Gespräch“, sagt Zetland-CEO Tav Klitgaard. Das 2016 gegründete, strikt auf konstruktiven Journalismus fokussierte Medienunternehmen generiert auf diese Weise Leser-Einnahmen und Reichweite gleichermaßen, und es scheint sich auszuzahlen. Seit 2019 ist Zetland profitabel und hat mittlerweile 40.000 zahlende Kunden, die pro Monat im Schnitt 17 Euro hinlegen. Ein Drittel davon ist jünger als 33 Jahre. Die Gründer führen dies natürlich nicht nur auf das Geschenk-Konzept zurück, sondern auf die  journalistische Qualität und ein stark auf Audio ausgelegtes Angebot.  

Auch das kulturelle Umfeld ist für die Preisgestaltung relevant

Wer an Preis- und Geschäftsmodellen arbeitet, sollte sich aber nicht nur mit seinen Produkten und Nutzern, sondern auch mit dem kulturellen Umfeld beschäftigen. US-Amerikaner zum Beispiel sind das Spenden gewöhnt, sie tun es in den vielfältigsten Zusammenhängen gerne und reichhaltig. In Deutschland, wo man Wohltätigkeit vor allem vom Staat erwartet, weil man ohnehin kräftig Steuern zahlt, ist die Spender-Kultur weniger ausgeprägt. Preise und Leistung werden genauer abgeglichen. Wer hier auf Mitgliedsmodelle setzt, muss mindestens eine gute Story bieten.

Für alle Kulturräume gilt: Verlage, die allzu starr an ihren Bezahlmodellen festhalten, machen es sich unnötig schwer. Viele Medienhäuser erleben, dass eine harte Paywall das Wachstum irgendwann versiegen lässt, weil ein Grund-Potenzial ausgeschöpft ist. Die NOZ-Gruppe experimentiert deshalb neuerdings mit flexibleren Modellen, um unterschiedliche Nutzerbedürfnisse besser abzuschöpfen – die Bezahlschranken variieren je nach Themenfeld und Angebot. Als Grundregel lässt sich feststellen: Themen und Formate, die es auch anderswo gibt, sollten eher frei zugänglich sein. Bei Marken mit Alleinstellungsmerkmal  können sich höhere Barrieren lohnen. Mancher Inhalt lässt sich über Anzeigeneinnahmen besser monetarisieren. 

Wichtig ist auch, dass sich Abos schnell kündigen lassen. Vertriebsleuten alter Schule mag das Magenkrämpfte bereiten. Aber wer sich im Abo fühlt wie im Gefängnis, wird bei nächster Gelegenheit ausbrechen und nie wiederkommen. Es ist deutlich sinnvoller, Kunden jederzeit gehen zu lassen, ihnen aber immer wieder neue Angebote zu machen. Dabei darf man ihnen ruhig ein bisschen auf die Nerven gehen. KI wird dabei helfen, die richtigen Anreize zu setzen. 

Die Forscher des Reuters Institutes haben übrigens herausgefunden, dass es kaum Unterschiede zwischen den Altersgruppen gibt, was die Zahlungsbereitschaft für Journalismus angeht. Allerdings weichen die Preisvorstellungen voneinander ab – auf eine Weise, die für die Verlage eher ungünstig ist. Während für ältere Kunden das Zeitungsabo der Referenzrahmen sei, verglichen jüngere die Angebote mit den Kosten und Nutzen von Netflix und Spotify, sagt Autor Nic Newman. Ein E-Paper-Abo ist derzeit zwar das lukrativste digitale Medienprodukt, dessen Fans dürften aber mittelfristig weniger werden. 

Man kann nur jedem Verlagsverantwortlichen raten, offen an die Preisgestaltung heranzugehen. Während einige Nutzer strikt aufs Budget schauen und am liebsten penibel abrechnen möchten, mögen die anderen bereit sein, für eine Art Deutschland-Ticket für Journalismus tatsächlich 49 Euro zu zahlen. Und wenn man hier mal fantasieren darf: Vielleicht könnten sogar Öffentlich-Rechtliche und ein paar Verlage ihre Streitigkeiten beilegen und eine Flatrate für Qualitätsjournalismus entwickeln, eine Art aufgestockte Haushaltsabgabe, bei der man sich quer durch verschiedenste Angebote lesen und hören kann. Kern aller Modelle sollte es sein, gewohnheitsbildend zu wirken – auch wenn das nur mit Hilfe von Rätseln und Kochrezepten funktioniert. Im Sinne einer gut informierten, aufgeklärten Bevölkerung und Wählerschaft ist es wichtig, dass Menschen Interesse an Journalismus entwickeln und es durch verschiedenste Lebenslagen beibehalten. Dann werden sie auch immer mal wieder zahlen.                    

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. September 2023. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 

Warum Vertrauen in Medien als Messgröße wenig nützt

Zwischen der Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa und dem Reuters Institute in Oxford schwelt ein Konflikt, der für Medienschaffende Stoff zum Nachdenken enthält. Die weithin bewunderte philippinische Journalistin und Gründerin der Newssite Rappler wirft dem Institut vor, mit einem Teil seiner Forschung Journalistinnen und Journalisten in Ländern zu schaden, deren Regierungen aktiv daran arbeiten, das Vertrauen in Medien auszuhöhlen. Es geht um den Digital News Report, die weltweit größte fortlaufende Untersuchung zum Medienkonsum, dessen elfte Ausgabe im Juni erschienen ist. Die Umfrage listet Rappler wiederholt als eine derjenigen philippinischen Medienmarken, denen die Nutzer am wenigsten vertrauen. Ressa sagt, die Regierung verwende diese Daten gegen sie und ihre Kollegen. Aus Protest gegen die Methodik war Ressa bereits im vergangenen Jahr aus dem Beirat des Instituts zurückgetreten.

Vertrauen ist ein aufgeladener Begriff. Kaum eine große oder groß gemeinte Rede kommt ohne ihn aus. Das Vertrauen in Institutionen schwinde, heißt es dann mit leicht dramatisierender Intonierung, speziell jenes in Medien und in den Journalismus. Aber ist Vertrauen überhaupt eine nützliche Kategorie?

Im Fall Ressa gegen Reuters hatte Institutsleiter Rasmus Kleis Nielsen schon 2022 versucht, die Sache einzuordnen. Hier zeigten sich die Kosten von mutigem, aufklärerischem Journalismus, analysierte er in einem Artikel. Natürlich hätten Regierungen, die Stimmung gegen unabhängige Medien machten, stets bei einem Teil der Bevölkerung Erfolg. „Beim Medienvertrauen gehe es um mehr als Faktentreue und die Vertrauenswürdigkeit des journalistischen Outputs eines Unternehmens. Es geht auch darum, wie Menschen diese Arbeit im Licht der jeweiligen Politik und ihrer parteipolitischen Präferenzen interpretieren“, so Nielsen. Man könnte also sagen, viel Feind, wenig Ehr. Die Forschung des Instituts belegt schon lange, dass Medienvertrauen und das Vertrauen in die jeweilige Politik eines Landes eng verknüpft sind. Ärgern sich Menschen über Politiker und politische Institutionen, erstreckt sich ihre Wut auch häufig auf Journalisten. 

Um Vertrauen zu verstehen, muss man Misstrauen verstehen 

Weder Forschung noch Journalismus können also ohne Kontext verstanden werden. Das macht es kompliziert in einer Welt, in der Politiker, Chefredakteure, Wissenschaftler und auch die informierte Öffentlichkeit recht leichtfertig mit Kategorien wie Medienvertrauen, Qualitätsjournalismus, Filterblasen oder Fake News um sich werfen, oft aus dem – natürlich lobenswerten – Ansinnen heraus, sich für einen starken Journalismus zum Schutz der Demokratie einzusetzen. Tenor: alles geht bergab, nur heiße Luft und Lügen nehmen zu. Doch so einfach ist es nicht.

Um zum Beispiel Medienvertrauen zu verstehen, muss man Misstrauen verstehen. Tatsächlich gehört es zu den Kernmerkmalen der Demokratie, dass sie ihren Bürgern ein gewisses Maß an Skepsis nicht nur gestattet, sondern sogar abverlangt. Vertrauenswerte nahe der 100 Prozent sollten eher stutzig machen als begeistern. Tatsächlich predigen die Medien selbst es ihren Konsumenten immer wieder: Sei kritisch, skeptisch, hinterfrage. Dies prägt auch die vielfach geforderte digitale Bildung. Teenager und junge Erwachsene wurden und werden dazu erzogen, lieber einmal mehr zu googeln, als auf Spam, Phishing oder Lügengeschichten hereinzufallen. Wenn das Medienvertrauen in der Folge niedrig ist, hat der Journalismus so betrachtet eines seiner Ziele erreicht.

Dies wird sich mit dem Vordringen generativer KI noch verstärken. Schließlich weisen auch die Medien zurecht darauf hin, dass Bots wie Chat GPT manchmal halluzinieren und (noch) keinen Faktencheck können. Klar, die Medienmarken, die so etwas verbreiten, wollen damit auch sagen: Wenn ihr euch auf uns verlasst, seid ihr sicher. Aber sind die Nutzer es wirklich, wenn es gleichzeitig zunehmend heißen wird, dass dieses und jenes Produkt mit Hilfe von KI erstellt oder zumindest ergänzt und animiert wurde? Etwas Misstrauen ist da eine gute Strategie. 

Das heißt nicht, dass man Medienvertrauen nicht messen kann und sollte. Neben dem Digital News Report, dessen deutscher Teil vom Hans Bredow Institut erstellt wird, tun dies auch andere Untersuchungen wie zum Beispiel die Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz. Interessant an solchen Erhebungen sind vor allem die Zeitreihen und Nuancen, nicht so sehr die plakativen Aussagen („dramatischer Vertrauensverlust“), die es in Vorträge schaffen. Ein hoher Vertrauenswert kann schließlich vieles bedeuten. Er kann ein Indikator für journalistische Qualität und Markenstärke sein, leider aber auch zeigen, dass Propaganda wirkt, es an Medienvielfalt mangelt, oder dass Menschen schlecht gebildet und oder einfach naiv sind. 

Der schwammige Qualitätsbegriff

Ähnlich schwammig ist der Begriff Qualitätsmedien. Den nutzen vor allem jene gerne, die in Häusern arbeiten, die sie für etwas besser als den Rest halten. Sie verstehen das als Abgrenzung zum Boulevard. Früher galt, je mehr Bleiwüste, desto höher die (vermutete) Qualität. Das hat allerdings noch nie etwas darüber ausgesagt, wie viele Menschen diese Medien mit welcher Wirkung tatsächlich erreichen. Zudem enthalten auch Qualitätszeitungen durchaus schlechten Journalismus. In manchen Regionen der Welt wird „quality media“ sogar als Kampfbegriff verstanden. Gerne beschränkten Regierungen mit zweifelhaftem demokratischem Verständnis den Zugang zu Informationen auf „Qualitätsmedien“, die Klassifizierung werde somit ein Einfallstor für Zensur, argumentieren Vertreter entsprechender Länder. Im Europarat wäre die Eröffnungssitzung des Experten-Ausschusses „Quality journalism in the digital age“ 2018 fast daran gescheitert, dass sich manche Mitglieder auf den Begriff nicht einlassen wollten.

Journalisten sollten sich generell darüber bewusst sein, dass ihre eigene Berichterstattung viel dazu beiträgt, wie Menschen Risiken der digitalen Kommunikationswelt wahrnehmen. Begegnet den Nachrichten-Konsumenten in großer Frequenz der Begriff „Fake News“, werden sie solche auch eher wahrnehmen, als Problem definieren und sich in Umfragen entsprechend äußern. Auch die Filterblase ist ein gängiger Begriff geworden, obwohl es Belege dafür gibt, dass Mediennutzer heute mit mehr verschiedenen Quellen in Berührung kommen als früher. Reporter und Kommentatoren beeinflussen also mit ihren Warnungen die Forschung, über deren Ergebnisse sie dann erschrecken. 

Was wir daraus lernen können

Praktiker können daraus ein paar Dinge ableiten. Zunächst einmal sollten sie auf andere Indikatoren schauen als auf Vertrauensabfragen, wenn sie sich der Qualität ihrer Erzeugnisse vergewissern möchten. 

► Werden journalistische Angebote tatsächlich genutzt? Wie lange bleiben die Kunden dran? Wie oft kommen sie wieder und zahlen sie dafür? Hat Berichterstattung (politische) Konsequenzen? All das zeigt deutlich verlässlicher an, ob man seinen Job anständig macht. Der Bild zum Beispiel begegnen viele Menschen aus gutem Grund mit Misstrauen. Trotzdem bietet sie ihren Nutzern etwas, das diese woanders offenbar so nicht finden: zugespitzte, manchmal exklusive Informationen und einen gewissen Unterhaltungswert. Der Qualitätsmarke hingegen mögen sie vertrauen, sie aber trotzdem ignorieren. Vertrauen allein reicht nicht, der Gebrauchswert muss stimmen.  

► Außerdem sollten sich Journalisten ihre eigene Rolle in gewissen Aufregungsspiralen bewusst machen. Wer pöbelnden Politikern Reichweite verschafft, trägt dazu bei, dass der Ton rauer wird. Wer wochenlang in allen Facetten diskutiert, ob Aktionen von Klimaklebern gerechtfertigt sind, muss sich nicht wundern, wenn das Thema Klimaschutz polarisiert. Mit solchen Debatten zwingt man das Publikum in gegensätzliche Haltungen hinein, meist ohne ihnen wieder herauszuhelfen. In einer komplexen Welt ist die Aufgabe von Journalismus aber auch, Menschen bei der Suche nach Lösungen zu begleiten. 

► Schließlich brauchen Medien ein neues Verständnis von Qualität. Das sollte sich einerseits mehr an Prozessen, andererseits an der Wirkung des eigenen Journalismus orientieren als an selbstdefinierter Brillanz. Ein Qualitätsausweis ist zum Beispiel, wenn Redaktion und Organisation journalistische und ethische Standards einhalten und transparent mit möglichen Interessenkonflikten umgehen. Qualität könnte man auch daran messen, ob die Produkte eines Hauses die Bedürfnisse verschiedener Nutzergruppen erfüllen, ob die eigenen Recherchen Organisationen und Individuen zum Handeln bewegen, ob man Menschen auch mal Mut statt Angst macht. 

Natürlich dürfen sich Intendanten und Chefredakteure trotzdem über einen oberen Platz in Vertrauensrankings freuen – seit Jahren werden die Listen in Deutschland übrigens von öffentlich-rechtlichen Medien und Lokalzeitungen angeführt. Ob Redaktionen aber wirklich einen starken Journalismus produzieren, zeigt sich anderswo. 

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 26. Juni 2023.


 

Excel statt Prosa: Was Journalisten künftig können sollten

Man kann es traurig finden, dass Dirk Kurbjuweit nun Chefredakteur des Spiegel ist, selbst wenn man in der jüngsten Personalrochade keine Loyalitäten zu beachten hat. Immerhin geht dem Magazin ein überragender Beobachter und Schreiber verloren, der sich nun in strategischer Arbeit und Machtkämpfen aufreiben muss, statt das zu fabrizieren, was die Marke ebenso dringend braucht: erstklassigen Journalismus. Vor allem aber ist man als Unbeteiligte – womöglich zu Unrecht – verwirrt. Wird nicht seit Jahren auf ziemlich allen Branchen-Konferenzen gepredigt, dass es eine der größten Sünden bei Beförderungen ist, auf die exzellente Fachkraft zu setzen statt auf jene Kolleginnen und Kollegen mit dem größtmöglichen Führungspotenzial? Schließlich brauchen Medienhäuser in diesen Tagen vor allem versierte Strategen, die es zudem schaffen, Talente zu binden. 

Die Signalwirkung der Entscheidung, die Schreibkraft Nummer eins zum Chef von Deutschlands wichtigstem Nachrichtenmagazin zu machen, ist nicht zu unterschätzen. Junge Journalistinnen und Journalisten beobachten das und ziehen daraus ihre Schlüsse. Und damit stellen sie womöglich ihre beruflichen Weichen in eine ungünstige Richtung. Müssen die Medienschaffenden der Zukunft doch viele neue Dinge trainieren, die erst langsam in die Ausbildungspläne der Branche einsickern. Recherche und Schreiben gehören dazu, bilden aber nur noch einen kleinen Teil des Redaktionsalltags ab. Hier sind sieben Fertigkeiten, die auf jeden Fall zu den künftigen Grundkompetenzen gehören:

Verständnis von Geschäftsmodellen und Strategie

Die Entschuldigung, sich als Redaktionsmitglied nicht mit profanen Dingen wie Geldverdienen beschäftigen zu müssen, können sich künftig vielleicht noch ein paar Künstler leisten. Selbst denen hilft es zu wissen, wie ihre Gehälter erwirtschaftet werden. Schon heute haben viele Chefredakteure Ergebnisverantwortung, und das ist gut so. Wer mit seinem Journalismus etwas bewirken will, muss ihn gezielt einsetzen und dessen Erfolge kontrollieren. Ansonsten ist er nicht viel mehr als eine kostspielige Form der Selbstbefriedigung. Medienhäuser werden es sich künftig immer weniger leisten können, Ressourcen zu vergeuden. Im gerade anbrechenden Zeitalter von Künstlicher Intelligenz ist eine Strategie besonders wichtig. Wer da noch rein nach Bauchgefühl agiert und alles macht, nur weil man es machen kann, wird seine Redaktion überfordern und sein Publikum ohnehin. Journalisten, die strategisch denken können, tun sich zudem leichter mit einer Zukunft als Entrepreneure – eine Möglichkeit, die das Fach heute zum Glück eröffnet. 

Wissen über und Erfahrung in der Anwendung von KI

Künstliche Intelligenz eröffnet dem Journalismus große Chancen, birgt aber auch Risiken. Sie ist schon jetzt nützlich sowohl in der Recherche als auch in der Produktion und beim Ausspielen von Journalismus. Man kann damit unter anderem Quellen aufspüren, Interviews vorbereiten, datenjournalistisch arbeiten, Inhalte zielgruppengerecht entwickeln und personalisiert verteilen. „Journalisten aller Ressorts sollten sich mit KI beschäftigen“, sagte Garance Burke, Investigativ-Journalistin der Nachrichtenagentur AP in der vergangenen Woche auf dem IPI World Congress in Wien. Es ist aber auch wichtig, die Grenzen und Gefahren von KI zu kennen. Gibt es keine Kontrolle, kann sie dazu beitragen, Stereotype und Fehler zu potenzieren. Jede künstliche Intelligenz ist immer nur so gut wie der Datensatz, auf dem sie aufbaut.  

Kompetenz im Umgang mit Zahlen und Daten

Es soll noch heute Journalisten geben, die sich damit brüsten, in Mathe immer versagt zu haben. Möglicherweise gehören dazu einige derjenigen, die in der Wahlberichterstattung regelmäßig Prozent und Prozentpunkte verwechseln. Allerdings wird Datenjournalismus immer wichtiger werden, allein weil es immer mehr Daten gibt. Außerdem hilft Datenanalyse dabei, auf der Basis von Fakten ab und an mal die Agenda zu setzen, statt der Agenda anderer hinterher zu jagen. Gefragt, wie sich die Journalistenausbildung ändern müsse, riet Florencia Coelho, Ausbildungsredakteurin bei der argentinischen Zeitung La Nacion, auf dem IPI Congress vor allem eines: „Alle müssen lernen, mit Excel Tabellen zu arbeiten“.

Abgesehen von der Inhalte-Produktion kommt Datenverständnis auch in der Redaktion gelegen, wenn es darum geht, Nutzerzahlen zu analysieren und zu interpretieren. Je nach Strategie zeigen verschiedene Metriken, welche Inhalte erfolgreich sind und welche Mühe man sich sparen kann. Im Vorteil ist, wer solche Daten lesen und – noch besser – die Vorgaben entsprechend anpassen kann. 

Freude an kurzen oder spielerischen Formaten 

Im Journalismus sind in den vergangenen Jahren rund um Social Media und Datenanalyse viele neue Jobs entstanden. Dennoch ist der Traum vieler angehender Journalisten gleich geblieben: einmal eine Seite Drei schreiben. Das ist schade. Denn mit kurzen Formaten – insbesondere Video – spricht man Zielgruppen an, die der Journalismus früher eher ignoriert hat. Viele Menschen lassen sich zudem lieber auf komplexe Themen ein, wenn sie dies spielerisch tun können. Ein Beispiele dafür ist das von der Financial Times mit großem Aufwand produzierte Climate Game. Gerade junge Menschen nähern sich Nachrichten besonders gerne, wenn es lustig zugeht. Comedy-Formate sind gefragt. Das hunderte Zeilen lange Feature wird weiterhin Aufmerksamkeit finden, wenn es entsprechend erzählt ist. Aber mit der Vielzahl der Plattformen steigen die Möglichkeiten, Inhalte anders zu vermitteln. Gut für junge Absolventen ist: Wer neue Formen beherrscht, hat weniger Konkurrenz. Viele Redaktionen sind gut gefüllt mit versierten Schreibern. Wer Neues einbringen kann, ist gefragt.     

Faktenwissen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit 

Der Klimawandel ist das größte vorhersehbare Risiko für die Menschheit. Redaktionen haben deshalb die Pflicht, ihr Publikum dabei zu unterstützen, zukunftsorientierte Entscheidungen für sich, ihre Kinder und ihr Umfeld zu treffen. Jede Journalistin, jeder Journalist braucht ein Basiswissen in diesem Feld, das sämtliche Ressorts durchzieht und nach Einordnung ruft. Redaktionen wie Radio France haben deshalb damit begonnen, sämtliche Mitarbeitende in Sachen Klimafakten zu schulen. In der Journalistenausbildung sollte die Wissensvermittlung zum Thema Nachhaltigkeit eine Selbstverständlichkeit werden.   

Kenntnisse im Projekt- und Change-Management

Man mag argumentieren, dass das Managen von Veränderungen Chefsache ist, und Journalistenschüler sind noch keine Chefinnen oder Chefs. Aber auch Berufsanfänger werden heute oft schon mit Projekten betraut, auch, weil sie sich Verantwortung wünschen. Bei der zum britischen Konzern Reach gehörenden Marke Birmingham Live war es zum Beispiel eine Volontärin, die den überaus erfolgreichen Newsletter Brummie Muslims entwickelte, der sich an die muslimische Bevölkerung richtet. Es ist deshalb nützlich, wenn schon junge Mitarbeitende wissen, wie man Projekte managt, Koalitionen schmiedet, Befürworter auf seine Seite zieht, Ergebnisse nachhält und mit Fehlern umgeht. All das ist kein Hexenwerk, es gibt Werkzeuge dafür, die sich immer wieder auspacken lassen. Je früher man sie beherrscht, umso selbstverständlicher wendet man sie an.     

Kenntnisse aus Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Neurowissenschaften

Es gibt zahlreiche akademische Disziplinen, die dem Journalismus viel zu sagen hätten. Nur halten sich beide Seiten gerne auf Distanz. Man wirft sich gegenseitig Praxisferne beziehungsweise Oberflächlichkeit vor. Dabei könnten Praktiker und Forscher viel voneinander lernen. Für Journalisten ist es wichtig zu wissen, wie Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten, welche Reize wirken und welche überfordern. Schon lange forschen Wissenschaftler zum Beispiel zum Thema Nachrichtenvermeidung, erst seit kurzem wird dies von Redaktionen ernsthaft diskutiert. Journalisten fordern von anderen oft, dass sie sich mit der Wirkung ihres Tuns auseinandersetzen müssen, in Kommentaren verlangen sie dies zum Beispiel regelmäßig von den großen Tech-Konzernen. Es wird Zeit, dass sie diesen Rat auch selbst beherzigen.       

Diese Kolumne erschien am 31. Mai 2023 bei Medieninsider.


So kann Klimajournalismus den Journalismus nachhaltiger machen

Ein sehr geschätzter ehemaliger Kollege reagierte kürzlich etwas verschnupft auf die Ankündigung, demnächst erscheine ein großer Report zum Thema Klimajournalismus. „Klimajournalismus – was ist das? Journalisten sind keine Aktivisten“, kommentierte er einen entsprechenden LinkedIn-Post. Dieser Kollege hat sich Zeit seines Berufslebens mit der Autoindustrie beschäftigt. Er tut das kritisch, kompetent, exzellent vernetzt und mit Begeisterung für das Fachgebiet. Kaum jemand würde ihm dafür Aktivismus vorwerfen. Reportern, die über Klimaschutz berichten, geht dies anders. Auch wenn sie dies nur am Rande tun, zum Beispiel im Kontext eines Wetterberichts, findet sich immer jemand, der ihnen eine politische Agenda unterstellt. 

Das macht eine ohnehin komplizierte Sache nicht einfacher, selbst wenn sich die Führungsetage gegen solche Anwürfe verwahrt. „Wir haben keine Agenda. Der Klimawandel ist so offensichtlich geworden. Selbst den größten Kritikern ist klar, dass da etwas passiert“, sagt zum Beispiel der ARD-Vorsitzende und SWR-Intendant Kai Gniffke in einem Interview für den oben erwähnten Report „Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact“, der von der European Broadcasting Union in Auftrag gegeben wurde und in der vergangenen Woche erschienen ist (Disclaimer: Ich bin Lead-Autorin dieses Reports). 

So wie Gniffke reagierten viele Interviewpartner. Man berichte die Fakten, auf jeden Fall. Das ist verständlich, denn wer würde schon zugeben, eventuell eine Schere im Kopf zu haben, weil der Ruf der Überparteilichkeit auf dem Spiel steht? Für die öffentlich-rechtlichen Medien, die dieser verpflichtet sind, ist das eine spezielle Herausforderung. 

Da hilft es womöglich, wenn Führungskräfte sich und anderen vor Augen führen, dass eine Investition in Klimajournalismus und eine entsprechende Strategie in jedem Fall nutzt – und sei es, um das gesamte journalistische Angebot und damit die Organisation nachhaltiger zu machen. Denn gerade, weil Klimajournalismus so komplex ist, lassen sich die Lektionen, die Redaktionen daraus lernen können, auch auf andere Felder anwenden. Dies ist das Fazit des Reports, der sieben solcher Vorteile herausgearbeitet hat:

Erstens: Beim Klimajournalismus geht es um die Zukunft. Der heutige Journalismus steckt allzu häufig in der Gegenwart fest. Er muss Strategien entwickeln, um seine Legitimität in der Aufmerksamkeitsökonomie zu steigern. Dies gilt besonders für öffentlich-rechtliche Medienhäuser, denen die Daseinsberechtigung von verschiedenen politischen Lagern abgesprochen wird. Wer, wenn nicht sie sollte den Auftrag haben, zum Schutz der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten durch besseren Journalismus beizutragen? Damit würden die Sender auch den besonderen Ansprüchen der jungen Generation gerecht. Es ist vor allem ihre Zukunft.

Zweitens: Klimaschutz braucht Hoffnung. Nur damit bringt er Menschen zum Handeln. Der heutige Journalismus konzentriert sich dagegen meist auf Konflikte, Versäumnisse und Fehlschläge. Konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus bieten einen Weg in die Zukunft. Das Drive-Projekt der DPA und der Beratung Schickler, in dem 21 deutsche Regionalverlage ihre Daten zur Verfügung stellen, hat kürzlich belegt, dass inspirierende Stücke die wertvollsten Digital-Inhalte sind, wenn es um Abo-Abschlüsse geht. In der vergangenen Woche widmete sich der gesamte Journalismustag der Gewerkschaft Verdi dem konstruktiven Journalismus.  

Drittens: Im Klimaschutz zählt das, was getan wurde. Der heutige Journalismus konzentriert sich noch zu sehr auf das, was gesagt wurde. Dabei lässt der „Er hat gesagt, sie hat gesagt“ Journalismus, der vor allem die Politikberichterstattung dominiert, die meisten Nutzer eher kalt. Moderner Journalismus sollte stärker auf Daten als auf Zitaten aufbauen.

Viertens: Ein funktionierender Klimajournalismus nähert sich dem Publikum mit Respekt und in einer Sprache, die es versteht. Der heutige Journalismus erhebt sich oft besserwisserisch über sein Publikum. Viel zu häufig mahnt oder warnt er, statt zu erklären und aufzudecken. Viele Nutzer fühlen sich davon bevormundet oder dazu gedrängt, in Lagerkämpfen Partei zu ergreifen. Dabei muss Journalismus vielfältiger und inklusiver werden, wenn er Menschen erreichen, begeistern und zum Handeln bringen möchte. Das gilt für Formate und Protagonisten.

Fünftens: Klimajournalismus muss im Lokalen verankert sein. Der heutige Journalismus strebt dagegen zu oft nach Reichweite und vernachlässigt dabei die besonderen Bedürfnisse der Menschen vor Ort. Um sich unverzichtbar zu machen, sollte Journalismus seine Bedeutung als gemeinschaftsbildende Institution zurückgewinnen. Wer ein Medienprodukt nutzt oder gar abonniert, tut dies oft, um dazuzugehören. 

Sechstens: Klimajournalismus muss Wirkung zeigen, sonst ist er sinnlos. Er sollte deshalb seine eigenen Praktiken reflektieren und Erkenntnisse aus der Forschung nutzen, insbesondere aus den Kommunikationswissenschaften und der Psychologie. Journalismus tut dies noch viel zu selten. Journalisten sind üblicherweise neugierige Menschen, aber oft erstaunlich veränderungsresistent. Medienhäuser könnten viel gewinnen, zeigten ihre Führungskräfte und Mitarbeitenden mehr Freude am Lernen und strategischen Denken.

Siebtens: Klimajournalismus profitiert von Zusammenarbeit. Dies gilt für die interne Vernetzung von Ressorts und Regionen sowie extern für die Kooperation mit anderen Medienhäusern oder Partnern, die zum Beispiel Daten liefern. Im heutigen Journalismus dominiert noch viel zu oft altes Konkurrenzdenken. Dabei ließen sich über Kooperationen so viele Potenziale heben. Der Journalismus der Zukunft ist kollaborativ.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 7. März 2023. Um aktuelle Kolumnen dort zu lesen, braucht man ein Medieninsider-Abo. 

Darum ist der Journalismus heute objektiver als früher

Für die einen hat die Debatte um Objektivität im Journalismus gerade erst begonnen, für die anderen ist sie längst abgehakt. Allein das zeigt, wie dringend sie geführt werden muss. Denn es geht um nicht weniger als die Arbeitsgrundlage, aus der die Branche ihre Existenzberechtigung ableitet. 

Anlass dieser Feststellung ist ein Gastbeitrag in der Washington Postvom Januar 2023 samt Reaktionen darauf. Der Titel lautete: „Redaktionen, die Objektivität hinter sich lassen, können Vertrauen schaffen“. Was den Text brisant macht, ist die Autorenschaft: Leonard Downie Jr. Er ist ehemaliger Chefredakteur des Blattes und als Redakteur in den Siebzigerjahren mit den Watergate-Recherchen befasst gewesen. Heute ist er Journalismus-Professor an der Walter Cronkite School of Journalism der Arizona State University. Gemeinsam mit einem ebenso dekorierten Kollegen, Andrew Heyward, ehemals Präsident von CBS News, hat er mehr als 75 (amerikanische) Nachrichtenmacher:innen für eine Studie zum Thema befragt, deren wichtigste Erkenntnis viele in der Branche kaum verwundern dürfte: dass die vermeintliche Objektivität des (US-)Journalismus vor allem die Sichtweise derjenigen reflektiert, die in Redaktionen lange Zeit und oft nach wie vor das Sagen hatten und haben.

Die Reaktionen in der journalistischen Twitter-Blase waren gemischt. Als ein „Erdbeben“ für die Medienbranche bezeichnete ein ebenfalls langgedienter Post-Redakteur den Beitrag. Ein jüngerer Kollege aus Großbritannien hingegen bemerkte, wohl wissend, mit seiner Wortwahl zu überzeichnen: „Ich bin froh, dass zwei weiße Männer von einer Stiftung Geld dafür bekommen haben, um herauszufinden, was viele von uns schon sehr lange wissen.“ 

Ende der Geschichte? Eher nicht. Denn was die Debatte so wichtig macht, ist genau die Tatsache, dass sich die Frage nicht mit einem einfachen Daumen hoch oder Daumen runter beantworten lässt. Man kann sie mit einem „es gibt keine Objektivität“ genauso wenig beenden wie mit „es geht um nichts als die Fakten“. Dennoch stehen sich die Verfechter beider Positionen zumindest in der Außenwirkung unversöhnlich gegenüber. Dies reicht bis weit in den redaktionellen Alltag hinein. 

Bei der Recherche für einen Report zum Thema Klimajournalismus* erzählten viele Redaktionsleiter:innen von einem Generationenkonflikt. Junge Leute wollten zwar gerne über Klimathemen berichten, sie verstünden sich aber als Aktivist:innen, klagten Interview-Partner:innen aus verschiedenen Ländern und Mediengattungen. Wer so voreingenommen an die Sache herangehe, den könne man nicht mit so einer Aufgabe betrauen. „Wir müssen die jungen Leute immer wieder daran erinnern, wer wir sind“, so der Außenpolitikchef einer Nachrichtenagentur. Viele Frauen, Kolleg:innen aus Einwandererfamilien und/oder solche mit anderer Hautfarbe bemängeln hingegen auch hierzulande zurecht, dass die dominante Perspektive des Journalismus, die von der Ressortaufteilung und Bildauswahl bis hin zu Kommentaren praktisch alles prägt, der Vielfalt von Realität und Lebenserfahrungen der potenziell Angesprochenen nicht gerecht wird. 

Für die Branche verknüpft sich damit nicht nur ein Legitimitäts-, sondern auch ein Wirtschaftlichkeitsproblem. Weite – und wachsende – Teile des Publikums werden Journalismus schlicht ignorieren, wenn sie sich von dessen Inhalten und Formaten nicht angesprochen fühlen. Verlagen fehlen dann die Einnahmen, den gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Anbietern ihre gesamte Daseinsberechtigung. Es gilt aber auch: Ein Journalismus, der sich den Nutzer:innen anbiedert, in dem er allein ihre Perspektive bedient, hat seinen Namen nicht verdient. Guter Journalismus überrascht und macht neugierig, er sollte nicht erwartbar sein. 

Wie sich Widersprüche auflösen lassen

Vermeintlich steckt da ein Widerspruch, wie ließe er sich auflösen? Zunächst einmal durch Begrifflichkeiten. Das Wort Objektivität gehört ins Museum journalistischer Selbstbeschreibungen. Über Themen und Fakten zu berichten hat schon immer bedeutet, Themen und Fakten auszuwählen und zu gewichten. Viel öfter noch als heute, wo Daten beim Priorisieren helfen, wurde dazu früher vor allem das Bauchgefühl bemüht – und dann das Gespräch mit Kolleg:innen und Vorgesetzten, die ähnlich tickten. Auch am Beginn einer jeden investigativen Recherche stand und steht die Entscheidung: ist das ein Thema, lohnt sich die Investition? Es ist kein Zufall, dass es bei großen Investigativ-Projekten bislang viel häufiger um Korruption und Steuerhinterziehung ging als um andere Arten von Machtmissbrauch – die Recherchen zum Fall Harvey Weinstein waren auch aus diesem Grund ein wichtiger Schritt zu mehr Vielfalt. 

Ähnlich angeschlagen ist der im britischen Englisch eher verwendete Begriff „impartiality“, die Unparteilichkeit. Diese Vorgabe hatte zum Beispiel im Klimajournalismus viel zu lange dazu geführt, dass Leugner des Klimawandels Sendezeit bekamen, obwohl die Fakten sie längst widerlegt hatten. Die für die BBC zuständige britische Regulierungsbehörde Ofcom hat deshalb den Begriff um „due impartiality“ – angemessene Unparteilichkeit – erweitert und in ihre Statuten geschrieben. Darin verbirgt sich der Auftrag, das zu ignorieren oder zumindest richtigzustellen, was aus Sicht der Wissenschaft Blödsinn ist – was sich in manchen Fällen leider erst im Nachhinein beurteilen lässt. 

Dies alles bedeutet aber keinesfalls, dass Journalist:innen damit von der Pflicht entbunden sind, sich ein möglichst objektives Bild zu verschaffen. Ihr Job ist es, eigene Befindlichkeiten zurückzustellen, eine Position der Distanz einzunehmen und auf der Grundlage von Fakten Vorgänge von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Schon frühere Generationen von Reporter:innen und Redakteur:innen hätten dies tun sollen, dann wäre ihnen aufgefallen, dass in ihren Publikationen viele Themen und Perspektiven schlicht fehlten. So gesehen könnte man sagen, dass der Journalismus von heute objektiver ist als früher, weil er immer besser darin wird, Vielfalt zu sehen, zu schätzen, abzubilden und sich seiner blinden Flecken bewusst zu werden. 

Die Datenjournalistin Julia Angwien schrieb in ihrem Essay „Journalistic Lessons for the Algorithmic Age“ in der vergangenen Woche, statt von Objektivität oder Fairness zu sprechen, betrachte sie es als Aufgabe von Journalisten, eine Hypothese zu erstellen und dann Beweise dafür zu sammeln. Die Betonung liegt auf dem Wort Beweis, und das hat etwas mit Fakten zu tun. Denn auch das ist Realität in der Branche: Manch einer, der sich auf Subjektivität beruft, war nur zu bequem zum Recherchieren. 

Natürlich haben auch sehr subjektive Beiträge einen Platz im Journalismus. Erfahrungsberichte, die frische Einblicke bringen, gehören zu den stark nachgefragten und wirkungsstarken Stücken, sei es im Text-, Video- oder Podcast-Format. Nur muss dann – wie auch beim Kommentar – die Perspektive deutlich gemacht werden. Die Ich-Geschichte funktioniert nur, wenn sie handwerklich exzellent und wohl dosiert daherkommt.

Allerdings gibt es ohnehin keine Lösung, die für alle passt, so auch das Fazit des oben zitierten Gastbeitrags der Washington Post. Jedes Medienhaus muss seine eigenen Regeln entwickeln, auch dazu, wie sich Redakteur:innen in den sozialen Netzwerken verhalten sollten. Was nicht geht: Wolkig von Objektivität reden – und dann schweigen.    

Was der Journalismus nicht in Frage stellen darf

Journalist:innen sollten sich aber sehr klar darüber sein, was ihre Aufgabe und spezielle Rolle in der Gesellschaft ist. Subjektivität lässt sich in der weiten Welt der digitalen Plattformen überall besichtigen. Die Suche nach der „bestmöglichen Version der Wahrheit“ hingegen, wie es die Watergate-Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein einst formuliert hatten, ist ein Alleinstellungsmerkmal des Journalismus. Stellte er dieses Prinzip in Frage, würde er an seinem eigenen Untergang arbeiten. 

Dass die Ergebnisse dieser Suche oft unbefriedigend, unausgewogen, so gut wie immer unvollständig sind, liegt in der Natur der Sache. Auch Wissenschaftler:innen tasten sich nur mühsam von Erkenntnis zu Erkenntnis voran. Gerichte müssen urteilen, wenn noch nicht alle Fakten vorliegen. Trotz aller Datenfülle ist selbst Künstliche Intelligenz fehlbar, weil sie nur Wahrscheinlichkeiten aber nicht die Wahrheit berechnen kann. Alle können falsch liegen. Aber Journalist:in sein heißt zuhören, hinschauen, nachbohren, fragen – und die Scheinwerfer auf andere richten, nicht auf sich selbst. Dass dazu Journalist:innen unterschiedlichster Perspektiven gebraucht werden, versteht sich. Nur manch eine Redaktion muss das noch begreifen.       

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 8. Februar 2023. Alexandra schreibt dort jeden Monat, zum Lesen aktueller Kolumnen braucht man ein Medieninsider-Abo. 

Die Pressefreiheit der anderen

Man würde sich gerne über das Alpha-Gehabe der Herren Döpfner, Reichelt, Friedrich und – in einer Nebenrolle – Stuckrad-Barre amüsieren und es als das letzte Zucken einer aussterbenden Spezies abtun. Sollen sie sich doch bekämpfen, der Journalismus ist längst weitergezogen. Dieser Gedanke drängt sich auf, wenn man die Dutzenden nachdenklichen, vielfältigen und zukunftsgewandten Beiträge Revue passieren lässt, die sich kürzlich vor und jenseits der Bühnen des International Journalism Festival in Perugia aufsaugen ließen. Aber Lachen wäre in diesem Fall verfehlt. Das, was derzeit rund um den weltweit einflussreichen Axel-Springer-Konzern abläuft, hat das Zeug, das öffentliche Vertrauen in den Journalismus massiv zu untergraben – noch stärker als die RBB-Affäre oder die Causa Relotius. 

Den Protagonisten des Schaukampfs möchte man jedenfalls raten, zum diesjährigen Tag der Pressefreiheit lieber zu schweigen. Denn wer sollte die hehren Mahnungen zur Bewahrung dieses geschützten Gutes noch ernst nehmen, wenn Spitzenpersonal bedeutender Medienhäuser signalisiert, dass entsprechende Regeln für sie selbst nicht gelten? Und das drückt sich nicht nur in ein paar nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Nachrichten aus, in denen politische Einflussnahme gefordert und der Quellenschutz ausgehebelt werden. Auch das abweisende Gehabe deutscher Verlage rund um den Media Freedom Act, mit dem Brüssel unter Führung der EU-Vizepräsidentin Vera Jourova geplagten Redaktionen und ihren Belegschaften zur Seite stehen will, zeugt nicht gerade von einem Bewusstsein für die Größe der Herausforderung. Wer in jenen Kreisen über den Schutz der Pressefreiheit redet, scheint damit erstaunlich oft die Pressefreiheit der anderen zu meinen. Selbst möchte manch einer wohl doch lieber nach Gutsherrenart durchregieren.

Man schützt die Pressefreiheit lieber woanders

Das wiederum scheint kein deutsches, sondern ein internationales Phänomen zu sein. Regierungen finanzierten sehr gerne Initiativen, die die Pressefreiheit nicht etwa daheim, sondern in anderen Ländern stärken sollten, sagte Meera Selva, Europa-CEO der Organisation Internews, auf einem Panel in Perugia. Die Runde widmete sich der delikaten Frage, ob und wie Regierungen Journalismus unterstützen könnten. Prominentestes Beispiel sind die USA.

Dort ist man, was Auslandsengagements für Medienfreiheit angeht, durchaus großzügig. Wen kümmert da schon das heimische Problem Julian Assange? Womöglich hoffen viele Regierende, dass „das Volk“ die Freiheit der Medien als unverdientes Privileg von Journalisten versteht statt als Stütze der Demokratie. Oder sie gehen davon aus, dass die meisten Menschen nur eine vage Ahnung davon haben, worauf diese in vielen Ländern von der Verfassung garantierte Freiheit baut: vor allem auf redaktionelle Unabhängigkeit, Auskunftsrechte und Informantenschutz. Mit dieser Einstellung aber unterschätzen sie ihr Publikum.

Eine kürzlich veröffentlichte, repräsentative Umfrage* zum Stand der Pressefreiheit in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei hat ergeben, dass die Menschen sich in deutlicher Mehrheit um den Schutz der Medien in ihrem Land sorgen – die älteren mehr als die jüngeren mit Ausnahme der Slowakei, wo der Mord an dem Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten auch die junge Bevölkerung aufgerüttelt zu haben scheint. 

Interessanterweise trauen die Befragten – neben den Berufsverbänden – vor allem der EU zu, wirkungsvoll gegen Angriffe einzuschreiten. Das Vertrauen in die Journalisten selbst variiert. Zu viele Redakteure haben sich offenbar für die Bürger ersichtlich vereinnahmen lassen in den Ländern, wo die öffentlich-rechtlichen Sender zum Teil zu Staatsfunk mutiert sind und überwiegend Oligarchen private Medien kontrollieren. 

Man sollte sich nicht zu selbstzufrieden geben bei der Frage, wie eine solche Umfrage in Deutschland ausgefallen wäre. Vertrauensfördernd sind die jüngsten Verwerfungen jedenfalls nicht. Reporter ohne Grenzen, die am Tag der Pressefreiheit ihr neues Ranking veröffentlichen, haben – so viel ist sicher – auch europäische Länder erneut abgewertet, darunter Österreich, wo ein Konflikt um Regierungsinserate und eine staatlich geförderte Journalisten-Ausbildungeskaliert ist.

Auch in Deutschland sollten Medienunternehmen deshalb wachsam bleiben und sich konstruktiv auch auf europäischer Ebene für Pressefreiheit einsetzen. Der Media Freedom Act mag nicht in allen Facetten perfekt sein. Es stünde den Verlagen aber gut an, um Lösungen zu ringen, statt Einmischung zu verdammen. Vor allem die Anforderungen des Regelwerks an Transparenz stoßen auf Widerwillen. Regulierung setzt aber aus gutem Grund immer da an, wo es an Einsicht mangelt. Wer Vorgaben nicht mag, könnte sich zum Beispiel ganz freiwillig über die Journalism Trust Initiative als vertrauenswürdiges Medienunternehmen zertifizieren lassen. Reporter ohne Grenzen hat dieses Projekt gemeinsam mit der European Broadcasting Union genau deshalb entwickelt, weil sie es satt hatten, immer nur Fehlverhalten zu verdammen und nach Regulierung zu rufen, wenn sich guter Journalismus auch mit konstruktiven Lösungen stützen lässt.  

Propaganda und Desinformation kennen keine Grenzen, und in Kriegs- und Krisenzeiten sind die Menschen noch stärker darauf angewiesen, dass Journalisten ungehindert arbeiten können. Medienhäuser haben die Pflicht, dazu beizutragen. Plädoyers für mehr Freiheit bleiben nur Geschwafel, wenn es darin erkennbar nur um die eigene Freiheit geht.   


*Transparenz-Hinweis: Alexandra Borchardt gehört dem Committee for Editorial Independence des Medienkonzerns Economia an, das die Umfrage in Auftrag gegeben hat. 

Diese Kolumne erschien zuerst am Tag der Pressefreiheit, dem 3. Mai 2023 bei Medieninsider

Die KI-Revolution: Darauf müssen Redaktionen aufpassen

Man muss nicht von Technik besoffen sein, um sich all die Potenziale auszumalen, die in der Entwicklung von Bots wie ChatGPT stecken – auch für den Journalismus. Der in dieser Woche erschienene Trend-Report des Reuters Institutes for the Study of Journalism erwartet gar ein „Jahr des Durchbruchs“ für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Redaktionen. Schon länger setzen viele von ihnen KI ein, vor allem für Leseempfehlungen, aber auch für automatisierte Textproduktion. Nun könnte der „Roboterjournalismus“ aber ein neues Level erreichen. 

Der im November gelaunchte Bot von Open AI beantwortet in Windeseile Fragen und hilft sogar bei der Erstellung von Interviewfragen. Er fasst Texte zusammen oder redigiert sie, er spuckt Literaturlisten aus und komponiert sogar Cartoons. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Der Bot von Open AI ist das, was man auf Englisch einen Game Changer nennt. Nimmt man dazu noch die Möglichkeiten, auf Basis von Recherchen animierte Filme zu produzieren, wie das zum Beispiel die Redaktion von Semafor ausprobiert, drängt sich der Eindruck auf: Bald ist alles möglich. 

Und genau hier liegt eine riesige Herausforderung für den Journalismus. Denn schon heute fehlt es in den meisten Medienhäusern vor allem an Fokus und an Klasse, keinesfalls an Masse. Je mehr möglich ist, umso wichtiger wird es zu entscheiden, was man tut, und was man lieber lässt. Einer Branche, die ohnehin lieber mit Bauchgefühl arbeitet als mit Strategie, wird genau das besonders schwerfallen. 

Die Chancen

Unter dem Strich dürfte KI dem Journalismus deutlich mehr nützen, als dass sie ihm schadet. Das JournalismAI Project an der London School of Economics ist ein Fundus entsprechender Innovationen, inklusive Trainingsprogramm. Gerade kleine Redaktionen profitieren von KI, weil sie kleineren Teams mehr leisten können. Software wird Routinearbeiten erledigen, während Reporter tiefer recherchieren – und auch das mit Hilfe von KI. Der Faktencheck wird einfacher, hyperlokale Berichterstattung möglich, Personalisierung von Inhalten und Kundenbindung leichter zu automatisieren.

Vielfalt und Inklusivität lassen sich besser erreichen, wenn Algorithmen dies kontrollieren oder gar steuern. Bei der kanadischen Globe and Mail zum Beispiel bestückt die Software Sophi die Homepage und stellt unter anderem sicher, dass ethnische Minderheiten inhaltlich repräsentiert sind. Anderswo machen automatisierte Übersetzungen auch in seltene Sprachen Beiträge neuen Zielgruppen zugänglich. Für diejenigen, die schlecht lesen können, gibt es Text-to-speech- Software, für solche mit Gehörproblemen maschinelle Transkription. Avatare können dieselbe Nachricht je nach Zielgruppe im entsprechenden Look, Stil, und Komplexitätsgrad vermitteln. Software wie Dall-E hilft dabei, komplexe Inhalte in Bilder zu pressen. Das bedeutet auch, dass verschiedene Audiences präziser bedient werden können. Die Hoffnung besteht, mit neuen Mitteln einen größeren Teil derjenigen zu erreichen, die das Nachrichtengeschehen bislang ignoriert haben – womöglich, weil sie sich nicht angesprochen fühlten.

Die Risiken

Natürlich bestehen auch Risiken. Die Gefahr wächst, auf manipulierte Inhalte hereinzufallen, denn davon wird es reichlich geben. Journalisten werden ihre Rolle als Gatekeeper neu ausfüllen müssen. Bislang sind die Bots darauf trainiert, plausible Inhalte abzuliefern, nicht 100 Prozent Faktentreue. Fachleute sagen, die Lernkurve der KI sei steil, die Fehlerquote sinke rasant. Aber derzeit kann vermutlich niemand mit Sicherheit sagen, ob die maschinellen Möglichkeiten zu mehr Lügengeschichten oder akkuraterer Qualitätskontrolle führen werden. Und natürlich fragen sich Journalisten, wie ihre Aufgaben und Arbeitsperspektiven sich entwickeln werden in einer Welt, in der Maschinen schneller und womöglich verständlicher schreiben und produzieren, als sie das je könnten.

Die Sorgen sind berechtigt. Vor allem jene Kolleg:innen, denen es an Lust, Zeit, Ressourcen und Energie zum Lernen fehlt, könnten am Ende leer ausgehen. Viele Jobs werden sich verändern. Viele Fähigkeiten, die früher nachgefragt waren, stellt die Technik über Nacht in den Schatten. Aber der Einzug von KI in Redaktionen birgt auch Gutes für den Arbeitsmarkt. Gelten Verlagshäuser zum Beispiel heute für Tech-Talente noch als angestaubt, könnten sie zu verlockenden Arbeitgebern werden, wenn KI-Versiertheit künftig zum Job-Profil gehört. Entsprechendes Know-how macht Journalisten auch für andere Branchen attraktiv und damit leichter vermittelbar. Redaktionsarbeit dürfte interessanter werden, wenn Roboter die Routine-Jobs erledigen. 

KI werde Medienunternehmen dabei helfen, „mehr mit weniger zu erreichen und Möglichkeiten in der Produktion und Verteilung besserer Inhalte zu eröffnen“, schreibt Nic Newman im Trend-Report des Reuters Institutes, der auf einer nicht-repräsentativen Umfrage unter Top-Führungskräften in Medienhäusern weltweit beruht. „Aber sie wird auch zu neuen Dilemmata führen, wie diese machtvollen Technologien ethisch und transparent genutzt werden können“, so Newman weiter. 

Eine Frage der Ethik

Wenn sich Journalisten künftig mehr mit Ethik beschäftigen müssen, um nicht von KI überrumpelt zu werden, ist das zunächst einmal eine gute Sache. Tatsächlich ist es zwingend überall dort, wo lernende Software Menschen ersetzt, denn werden Fehler und Vorurteile maschinell skaliert, sind die Schäden potenziell immens. Genauso wichtig wird es aber sein, dass Medienhäuser und Redaktionen ihre Ziele und die dazu passende Strategie penibel entwickeln. Schon bei der digitalen Transformation haben das viele versäumt. Etliches, was nach Innovation klang, wurde gemacht, ohne vorher zu überlegen, auf welche Weise es zum Erfolg von Produkten, Marken oder Missionen beitragen könnte. Man pilgerte lieber zur New York Times, als sich mit den Bedürfnissen der potenziellen Nutzer in der Nachbarschaft zu beschäftigen. So wurde viel Geld und Energie verbrannt. Diese Fehler gilt es zu vermeiden.

Die Versuchung, immer noch mehr zu produzieren, schlicht, weil es möglich ist, könnte eines der größten Probleme des Journalismus noch verschärfen. Laut dem Trend-Report macht die wachsende Nachrichtenmüdigkeit ihres Publikums schon jetzt 71 Prozent der befragten Führungskräfte Sorgen. Dieser kann man nicht mit mehr Masse begegnen, sondern mit Angeboten, die relevant und bedürfnisgerecht sind. Ob sie mit oder ohne KI erstellt werden sollten, das müssen Menschen entscheiden. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 11. Januar 2023