Die Besserwisser-Spirale: Warum Journalisten mehr über die Wirkung ihrer Arbeit nachdenken sollten

Nur wenige Journalisten konnten nach dem Mordanschlag auf Donald Trump am 13. Juli der Versuchung widerstehen, in Interviews diese eine Frage zu stellen: „Ist die US-Wahl jetzt gelaufen?“ Jeder Experte, der von Demokratie etwas hält, hätte nun eigentlich die Pflicht gehabt, das Ganze mit einem beherzten „Nein“ zu beantworten. Ganz einfach, weil die Wahl erst im November gelaufen sein wird. Aber natürlich inspirierte das die meisten Befragten dazu, den Kenner heraushängen zu lassen. Und so folgten längliche Erläuterungen, warum dieses „ikonographische Foto“ des blutverschmierten, faustreckenden Trump diesen nun praktisch bis kurz vor den Wahlsieg katapultiert habe.

Die Angst, im Welterklärer-Wettbewerb von Kollegen abgehängt zu werden, ist bei vielen erkennbar größer als der Respekt vor dem demokratischen Prozess. Dabei verhallen Aussagen wie „Wahl gelaufen“ nicht nur im Raum. Sie wirken auf Menschen. Und wenn diese Menschen Wähler sind, entscheiden sie sich womöglich dafür, nicht zu einer Wahl zu gehen, bei der ihre Stimme vermeintlich ohnehin nichts mehr drehen kann. Was dem einen oder anderen Kollegen in der Nachschau das befriedigende Gefühl geben dürfte, Recht gehabt zu haben.

Zum Glück funktionieren viele Menschen nicht so und stimmen im November trotzdem ab. Historisch ist sogar belegt, dass Attentate selten Wahlen beeinflusst haben, wie der  The Atlantic-Redakteur Derek Thompson unter dem Titel „Stop Pretending You Know How This Will End“ darlegte. Aber Medien funktionieren so. Nicht nur wählten unzählige Bildredakteure unter Dutzenden Trump-Fotos zielsicher das mit der Faust aus, aus ähnlichen Motiven, aus denen weltweit Konzertgänger nach Taylor-Swift-Karten Schlange stehen: Man will einfach dabei sein. Im Journalisten-Sprech wurde es dann noch zu einem „ikonografischen Bild“ erklärt, an dem Kollegen in Interviews folglich kaum mehr vorbeikamen.   

Mit dieser Art Besserwisser-Spirale, dem Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung, setzen sich die wenigsten Journalisten gerne auseinander. „Ich recherchiere nur die Fakten“, sagen sie dann, die Wirkung ihrer Worte müsse ihnen von Berufswegen egal sein. Aber die Wahrheit ist, dass es ohne den Herdentrieb der Medien, die journalistische Zuspitzung und die Lust an der Rechthaberei manche gesellschaftlichen Phänomene gar nicht in der Ausprägung gäbe, wie sie nun zu beobachten sind.

Beim Thema Desinformation zum Beispiel haben Forscher wie Andreas Jungherr von der Universität Bamberg, Ralph Schröder und Felix Simon von der Universität Oxford wiederholt nachgewiesen, dass das Phänomen in der Realität deutlich weniger ausgeprägt ist, als dies die mediale Debatte darüber vermuten lassen könnte. Der Journalismus, nicht die Fakten lösten eine „moralische Panik“ aus. Doch solche Erkenntnisse ändern nichts daran, dass rund um das Thema im Zusammenspiel zwischen Regulierern und Geldgebern eine Art „Fake-News“-Bekämpfungs-Komplex entstanden ist, der zum Teil mehr Schaden anrichtet, als dass er nutzt – in dem Regierungen dies zum Beispiel zum Anlass nehmen, Pressefreiheit einzuschränken.

Ein anderes Beispiel ist Künstliche Intelligenz. Ob die Bevölkerung die Technologie als potenziell hilfreich oder als bedrohlich wahrnimmt, richtet sich sehr stark danach, wie Medien das Thema angehen, ob sie Möglichkeiten erläutern oder Risiken dämonisieren. Sind Ängste erst einmal gesät, helfen Fakten kaum noch dabei die Wahrnehmung zu verändern.

Im vergangenen Jahr konnte man diese Dynamik in Deutschland rund um das Thema Wärmepumpe nachverfolgen. Die „Heiz-Hammer-Debatte“ ließ viele Menschen in Öl-Heizungen investieren, was etliche Immobilien perspektivisch unverkäuflich machen dürfte. Viele Redaktionen werden trotzdem auf ihre Pflicht zur kritischen Berichterstattung verweisen. Es ist leichter, Menschen kurzfristige Folgen nahezubringen (es wird teuer), als langfristige (Wertverfall, Klimafolgen) korrekt zu prognostizieren. Berichterstattung beeinflusst aber nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Wahrnehmung von Führungskräften in Politik und Wirtschaft. Deshalb wirkt sie sich auf Unternehmensstrategien, Investitionen, Regulierung und alltägliche Praxis aus.

Letztlich bezwecken Journalisten genau das: Sie wollen beeinflussen. Dennoch reflektieren Redaktionen viel zu selten über die potenziellen Folgen von geballter Nachrichten-Aufmerksamkeit (oder deren Entzug) – manchmal auch aus Angst, die Öffentlichkeit könnte dies als Zensur verstehen. Eine interessante Debatte gab es darüber nach der Finanzkrise von 2008: Wann ist es die Pflicht von Finanzjournalisten, Berichterstattung zurückzuhalten, um zum Beispiel zu vermeiden, dass Menschen die Banken stürmen und das System damit weiter destabilisieren?

Ähnliche Überlegungen gibt es in Redaktionen, wenn Nachahmer-Effekte zu befürchten sind, zum Beispiel bei Suiziden. Gängige Praxis ist es mittlerweile, dann auf Hilfsangebote hinzuweisen, wenn die Berichterstattung über spezielle Fälle im öffentlichen Interesse ist. Auch bei Erkenntnissen über individuelles Verhalten, das gegen Normen verstößt, wägen Journalisten ab (heute eher weniger als früher): Beeinflusst es zum Beispiel die Amtsführung eines Politikers oder einer Wirtschaftsführerin, wenn er oder sie eine Beziehung neben der Ehe pflegt oder sich regelmäßig betrinkt? Oder, um wieder nach Amerika zu schauen: Wann wurden Jo Bidens Aussetzer so gravierend, dass die Bevölkerung Aufklärung verdient hatte? Nicht über alles, was man erfährt, muss zwingend und sofort berichtet werden. Journalisten stünde es gut an, auch in anderen Feldern mehr Verantwortung für die Folgen ihrer Arbeit zu übernehmen.  

Wer nun erklärt, der Journalismus habe die Kraft des Agenda-Setzens ohnehin längst eingebüßt, in den sozialen Netzwerken verbreiteten sich massentaugliche Bilder wie jenes vom angeschossenen Trump schließlich viel schneller, stützt damit einen Abgesang auf das Metier, der eindeutig zu früh kommt. Denn tatsächlich ist die Macht der traditionellen Medien immer noch enorm. Dazu verstärken sie die auf Social Media geteilten Inhalte massiv. Studien des Berkman Klein Centers for Internet and Society an der Universität Harvard hatten dies für die US-Wahlen von 2016 und 2020 überzeugend belegt. Politiker, die Propaganda verbreiten wollen, profitieren von dieser Art Doppel-Effekt: Sie posten in den sozialen Netzwerken, setzen aber darauf, dass Politikjournalisten diese Beiträge aufspüren und zum Inhalt ihrer Berichterstattung machen.

Polarisierung war für Medien schon immer ein lukratives Geschäftsmodell, auch wenn die Vertreter traditioneller Marken dies gerne allein den Plattform-Konzernen ankreiden. Der Unterschied zu diesen ist jedoch, dass sich Facebook, Insta, YouTube und TikTok nicht den strengen ethischen Grundsätzen unterwerfen, wie Presseorgane dies tun. Journalisten haben deshalb die besondere Verpflichtung, auch nach dem zu suchen, was Menschen verbindet und Gesellschaften zusammenhält. Dazu gehört, immer wieder nach dem Gegenargument zu suchen, Nuancen und die andere Seite auszuleuchten, nicht nur den Konflikt sondern auch die Lösung hervorzuheben und eben über die Folgen von Veröffentlichungen nachzudenken. Manchmal kann das sogar bedeuten, dann und wann auf Inhalte zu verzichten, selbst wenn man noch so überzeugt von einer guten Schlagzeile oder einer reißerischen Interpretation ist.

Diese Kolumne erschien am 22. Juli 2024 bei Medieninsider. Aktuelle Kolumnen kann man dort mit einem Abo lesen. 

„Er hat’s doch gesagt!“ Auch Zitate sind Fakten, aber wie damit umgehen?

Es war ein Moment zum Luftanhalten, als sich US-Präsident Donald Trump im November 2020 inmitten der Wahl vor laufenden Kameras zum Sieger erklärte. „Frankly, we did win this election“, sagte er in einer Ansprache im Weißen Haus, die vor falschen Behauptungen nur so strotzte. Wer freie, gleiche und geheime Wahlen als vornehmste Disziplin der Demokratie wertschätzt, kann das Video der Rede nur mit Mühe ertragen. Klar ist, in so einem Fall müssen Journalist*innen berichten. Das ist ein Zitat für die Geschichtsbücher, gerade weil es das bestätigt, was man schon seit etwa vier Jahren weiß, nämlich dass sich Trumps Respekt für den demokratischen Prozess nur wenig über der Nulllinie bewegt. Hat es aber deshalb eine Eilmeldung verdient? Nicht wirklich, denn in der Hitze der Nacht könnte so manch einer die ohne Kontext auf dem Sperrbildschirm zitierte Behauptung als Tatsache gelesen haben.

Immerhin waren die großen amerikanischen Sender dieses Mal vorbereitet und auf der Hut. Sie unterbrachen ihre Live-Schalten und klärten ihr Publikum darüber auf, dass die Wahl keinesfalls schon entschieden sei. „Lassen Sie uns offen sein: Das ist das Theater autoritärer Regimes“, sagte ABC-Reporter Terry Moran. Und selbst der dem Präsidenten nahestehende Sender Fox News rückte seine Behauptungen gerade. Der Präsident habe hier ein Streichholz in eine leicht entflammbare Situation geworfen, sagte deren Moderator Chris Wallace. Die vielfach gescholtenen sozialen Netzwerke Twitter und Facebook versahen entsprechende Tweets mit dem Hinweis, hier sei noch alles offen.

Journalist*innen lernen dazu, aber es fällt ihnen immer noch schwer, mit einem Präsidenten umzugehen, der mit den Medien zu spielen versucht wie auf einem Klavier. Seine Taktik ist so durchschaubar wie schwer zu fassen: Erstens diskreditiert er die Branche als Ganzes, um das Vertrauen in die vierte Gewalt als Institution zu untergraben. Zweitens produziert er Berge an Inhalten, die es über die Reizschwelle der Aufmerksamkeits-Ökonomie schaffen und setzt damit die Agenda. Redaktionen verwenden eine Menge Ressourcen darauf, über entsprechende Tweets zu berichten und Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Drittens geht es ihm um Dauerpräsenz in den Medien. Schon im Wahlkampf 2016 war es Trump gelungen, um ein Mehrfaches so häufig in Bild, Text und Tonspur zu erscheinen, wie seine Mitbewerberin Hillary Clinton. Als Amtsinhaber flog ihm das Interesse naturgemäß zu.

Mit dieser Taktik suggeriert Trump seinen Anhängern Aktivität, Virilität und Kampfgeist – all das, was sie an ihm schätzen. Dazu gehört sein Hang zum Bruch mit Regeln und Konventionen. Klar ist, dass 2020 mehr Menschen für Trump gestimmt haben als vor vier Jahren, nicht trotz sondern wegen seiner Rhetorik und Strategie. In der Aufmerksamkeits-Ökonomie ist Reichweite die wichtigste Währung.

Wie sollen Medien also mit Behauptungen umgehen, die ungeheuerlich sind, aber aus dem Mund, der Feder oder Tastatur von Entscheidern kommen? Journalist*innen werden oft zu Lautsprechern von Politiker*innen. „Er hat gesagt, … sie hat gesagt“ ist nicht nur die ständige Begleitmusik von politischer Berichterstattung, sondern oft auch ihr Kern. „Er hat’s doch gesagt!“ ist die Rechtfertigung dafür. Dahinter steckt die Idee, dass man das politische Personal an seinen Worten messen und in größtmöglicher Transparenz zeigen möchte, mit wem es die Wähler zu tun haben. In dem Fall betrachten Reporter*innen Aussagen als Fakten, die man in ihrem Kontext verstehen muss: Jemand Bedeutendes hat etwas geäußert, das sagt etwas über ihn oder sie aus. Womöglich trägt es zur Entzauberung bei. Reporter*innen haben dabei oft ein gutes Gefühl. Kommen sie doch damit ihrer Verpflichtung nach, möglichst neutral zu berichten.

Kritisch ist aber, dass solche Aussagen nicht neutral nebeneinander stehen bleiben wie Flaschen in einem Regal, aus dem sich jeder nach seinem Geschmack bedienen kann. Denn je lauter und reichweitenstärker sie verbreitet werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Geschehen an sich beeinflussen. Siegestrunkenes Gebrabbel nach Schließung der Wahllokale mag keine Wählerstimme mehr wenden, aber möglicherweise ein paar Menschen dazu motivieren, sich den proklamierten Sieg auch „zu holen“, notfalls mit Gewalt. Je öfter eine Kandidatin im Bild erscheint, desto „normaler“ und wählbarer wird sie, auch wenn sie kein Programm hat. Und je mehr Falsches ein Kandidat auf der Tonspur verbreitet, umso größer ist der Abstumpfungseffekt. Redet jemand viel Blödsinn, werden womöglich noch jene Aussagen hervorgehoben, in denen „er jetzt wirklich mal Recht hat“.

Es ist deshalb sehr wohl entscheidend, darüber zu reflektieren, wann man wem welche Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt. Schließlich werden Falschbehauptungen von Politiker*innen üblicherweise erst von traditionellen Medien in der Fläche verbreitet, auch wenn sie dort dann richtiggestellt werden. Anders als oft angenommen, beeinflussen sie den Diskurs in der Breite noch immer deutlich stärker als soziale Netzwerke. Redaktionen sollten deshalb deutlich mehr darüber berichten, was tatsächlich geschehen ist, als darüber, was jemand gesagt oder angekündigt hat. Jedes journalistische Ressort tut gut daran zu überprüfen, ob in seinen Produkten die entsprechende Balance stimmt. Das ist selten der Fall, denn Zitate aufzulesen ist billig, Recherche ist teuer. Aber Lautsprecher findet das Publikum meist auch anderswo, Recherchen seltener.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 6. November 2020.

Exklusivität vs. Ethik – Wie viel Verantwortung haben Journalist*innen?

Kürzlich sind die alte und die neue Welt des Journalismus ordentlich aufeinandergeprallt. Natürlich lassen sich beide nicht so scharf trennen, aber wenn einer, der am Zusammenstoß Beteiligten, Bob Woodward heißt, darf man das wohl so beschreiben. Woodward ist am bekanntesten als Teil des Journalisten-Gespanns Woodward und Bernstein, das einst den Watergate-Skandal enthüllte. In seinem gerade erschienenen Buch mit dem Titel „Rage“ nimmt er sich den amerikanischen Präsidenten vor. 18 Interviews hat er dafür mit Donald Trump geführt, und in einem davon hatte der ihm erzählt, wie gefährlich das neue Coronavirus sei. Pikantes Detail: Das war am 7. Februar. Schon damals war das kaum exklusiver Stoff, könnte man sagen. Allerdings hatte Trump die Gefahr gleichzeitig öffentlich heruntergespielt. Deshalb sieht Woodward nun schlecht aus: Hätte der die Information aus moralischer Verantwortung heraus nicht gleich publizieren müssen, statt auf die Buchveröffentlichung im September zu warten?

Genau darüber ist in der Medien-Szene und darüber hinaus ein Streit ausgebrochen. Woodward habe nur seine Auflage steigern wollen, sagen die einen. Er habe die Sache erst einmal sauber recherchieren wollen, sagt Woodward. Und dann gibt es die, die Woodward ohnehin für überschätzt halten. Dieser leide unter einem Mangel an moralischer Neugier, schreibt Alex Nazaryan. Der Autor ist ebenfalls in der Washingtoner Journalisten-Szene unterwegs, für die Los Angeles Times hat er mit spürbarer Empörung nicht nur „Rage“ sondern gleich Woodwards gesamtes Werk verrissen.

Da mag es offene Rechnungen gegeben haben. Aber die Frage, die dahinter liegt, ist brisant. Wem gegenüber sind Journalist*innen verantwortlich, wenn sie bei Recherchen etwas erfahren, dessen zügige Veröffentlichung den Lauf der Dinge zum Guten beeinflussen könnte: ihrem Verlag, der von der Exklusivität profitiert und deshalb mehr am Einschlag eines Scoop-Kometen als an einer Vielzahl von Nachrichten-Schnuppen interessiert ist? Oder der Öffentlichkeit, die ein Interesse daran haben muss, dass Missstände so schnell wie möglich publik werden? Die Frage lässt sich nur von Fall zu Fall beantworten. Aber das Missfallen im Fall Woodward hat auch mit einem Generationen-Konflikt im Journalismus zu tun.

Die alten Dickschiffe der Branche wie die Washington Post, New York Times oder in Deutschland Der Spiegel und natürlich die Buchverlage leben vom dicken Scoop oder eben vom Bestseller. Er ist ihr Geschäftsmodell. Schneller, exklusiver, einfach besser zu sein als die Konkurrenz wirkt als Treibstoff, die großen Enthüllungen prägen ihr Selbstverständnis. Dahinter steckt nicht nur die Gier nach Aufmerksamkeit, Ruhm und Ehre. Die Ethik dahinter wird auch geprägt von der Denke: Erst wenn es richtig laut knallt, hört jeder den Schuss. Es muss eine Entrüstungs-Schwelle überschritten werden, um Akteure wie zum Beispiel Gesetzgeber oder Unternehmen dazu zu bewegen, etwas zu verändern. Gleichzeitig müssen alle Recherchen gerade bei komplexen Themen juristisch wasserdicht sein. Viele Veröffentlichungen, die erwartbar Ärger nach sich ziehen, werden von der Sorge begleitet, mächtige Objekte der Berichterstattung könnten ein Medienhaus in Grund und Boden klagen. All diese Erwägungen prägen Überlegungen dazu, wie schnell man bestimmte Dinge ans Licht zerren muss.

Die jüngere Generation von Journalist*innen muss sich mit den juristischen Fallstricken ebenso beschäftigen wie ihre Vorgänger. Aber die Idee, dass das Wohl des Medienhauses über allem steht, passt vielen nicht mehr in einer Zeit, in der Kollaborationen mit anderen, Beteiligung der Leser/User*innen an Recherchen und persönliche Verantwortung für den publizistischen Auftritt stärker ins Zentrum rücken. Im digitalen „Audience first“ sieht man sich mehr als Partner seines Publikums denn als Teil einer Operation, in der gilt: „Ego first“. In Abwandlung des Claims der Süddeutschen Zeitung, die sich neuerdings mit dem Slogan „Mut entscheidet“ schmückt, könnte man den Journalismus neueren Typs auch so beschreiben: „Demut entscheidet“.

Dazu passt es überhaupt nicht, der Öffentlichkeit um des schönen Scoops willen relevante Informationen vorzuenthalten. Nun mag man im Fall Woodward argumentieren, es hätte rein gar nichts geändert, Trumps Einschätzung zum Virus früher zu publizieren. Die Bürger+innen haben längst gelernt, auf das gesprochene Wort des Präsidenten nicht allzu viel zu geben. Aber die von Woodward so verschnupfte Reaktion erstaunt nun doch. Womöglich hat sie mit seiner Verankerung im Washingtoner Establishment zu tun. Politikjournalist*innen interessieren sich häufig eher für Macht als für das, was Macht anrichtet. Anders gesagt: „den Präsidenten zu Fall bringen“ steht auf Woodwards Prioritäten-Liste vielleicht höher als „Leben retten“ – wobei man in dem Fall argumentieren könnte, dass das eine mit dem anderen verknüpft ist.

Was die Sache lehrt: Journalist*innen täten gut daran, sich mit den Folgen ihres Tuns stärker auseinanderzusetzen. Es gibt ihn schließlich immer wieder, den Journalismus, der im Dienste des Scoops und der Schlagzeile gnadenlos Verletzlichkeiten ausbeutet. Die jüngste Kontroverse um die Veröffentlichung von WhatsApp-Nachrichten eines Kindes in der Bild-Zeitung, das sich nach dem Mord an seinen Geschwistern in höchster Not einem Freund anvertraut hatte, ist ein trauriges Beispiel dafür. In dem Fall hat sogar Springer-Konzernchef Mathias Döpfner Fehler eingeräumt.

Aber auch in weniger drastischen Fällen denken Journalist*innen häufig zu wenig darüber nach, was es mit Menschen macht, wenn sie plötzlich Objekte der Berichterstattung werden. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ruth Palmer hat ein aufschlussreiches Buch darüber geschrieben: „Becoming the News – How ordinary people respond to the media spotlight“.

Auch das ist klar: Reporter*innen sind keine Sozialarbeiter*innen. Ethisch können sie sich trotzdem verhalten. Wie dies gehen kann, haben Jodi Kantor und Megan Twohey in ihrem Buch „She said“ dokumentiert. Die Autorinnen beschreiben in diesem Lehrstück investigativer Recherche, wie sie den Skandal um Harvey Weinstein aufgedeckt und die MeToo-Debatte behandelt haben. Besonders interessant daran sind die Diskussionsprozesse innerhalb der New York Times: Wie Investigativ-Chefin Rebecca Corbett stets mahnte, mehr Fakten zu sammeln statt Aussagen – zum Beispiel Verträge mit Verschwiegenheitsklauseln. Wie viel Material die Reporter*innen zusammentragen mussten, bis endlich die Entscheidung fiel: jetzt wird veröffentlicht. Und wie sie mit ihren Quellen kommuniziert hatten, transparent, klar, sie ernst nehmend. Auch bei Weinstein war der Antrieb der Scoop. Aber bis zum Schluss ging es auch um die Frauen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 18. September 2020.