„Er hat’s doch gesagt!“ Auch Zitate sind Fakten, aber wie damit umgehen?

Es war ein Moment zum Luftanhalten, als sich US-Präsident Donald Trump im November 2020 inmitten der Wahl vor laufenden Kameras zum Sieger erklärte. „Frankly, we did win this election“, sagte er in einer Ansprache im Weißen Haus, die vor falschen Behauptungen nur so strotzte. Wer freie, gleiche und geheime Wahlen als vornehmste Disziplin der Demokratie wertschätzt, kann das Video der Rede nur mit Mühe ertragen. Klar ist, in so einem Fall müssen Journalist*innen berichten. Das ist ein Zitat für die Geschichtsbücher, gerade weil es das bestätigt, was man schon seit etwa vier Jahren weiß, nämlich dass sich Trumps Respekt für den demokratischen Prozess nur wenig über der Nulllinie bewegt. Hat es aber deshalb eine Eilmeldung verdient? Nicht wirklich, denn in der Hitze der Nacht könnte so manch einer die ohne Kontext auf dem Sperrbildschirm zitierte Behauptung als Tatsache gelesen haben.

Immerhin waren die großen amerikanischen Sender dieses Mal vorbereitet und auf der Hut. Sie unterbrachen ihre Live-Schalten und klärten ihr Publikum darüber auf, dass die Wahl keinesfalls schon entschieden sei. „Lassen Sie uns offen sein: Das ist das Theater autoritärer Regimes“, sagte ABC-Reporter Terry Moran. Und selbst der dem Präsidenten nahestehende Sender Fox News rückte seine Behauptungen gerade. Der Präsident habe hier ein Streichholz in eine leicht entflammbare Situation geworfen, sagte deren Moderator Chris Wallace. Die vielfach gescholtenen sozialen Netzwerke Twitter und Facebook versahen entsprechende Tweets mit dem Hinweis, hier sei noch alles offen.

Journalist*innen lernen dazu, aber es fällt ihnen immer noch schwer, mit einem Präsidenten umzugehen, der mit den Medien zu spielen versucht wie auf einem Klavier. Seine Taktik ist so durchschaubar wie schwer zu fassen: Erstens diskreditiert er die Branche als Ganzes, um das Vertrauen in die vierte Gewalt als Institution zu untergraben. Zweitens produziert er Berge an Inhalten, die es über die Reizschwelle der Aufmerksamkeits-Ökonomie schaffen und setzt damit die Agenda. Redaktionen verwenden eine Menge Ressourcen darauf, über entsprechende Tweets zu berichten und Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Drittens geht es ihm um Dauerpräsenz in den Medien. Schon im Wahlkampf 2016 war es Trump gelungen, um ein Mehrfaches so häufig in Bild, Text und Tonspur zu erscheinen, wie seine Mitbewerberin Hillary Clinton. Als Amtsinhaber flog ihm das Interesse naturgemäß zu.

Mit dieser Taktik suggeriert Trump seinen Anhängern Aktivität, Virilität und Kampfgeist – all das, was sie an ihm schätzen. Dazu gehört sein Hang zum Bruch mit Regeln und Konventionen. Klar ist, dass 2020 mehr Menschen für Trump gestimmt haben als vor vier Jahren, nicht trotz sondern wegen seiner Rhetorik und Strategie. In der Aufmerksamkeits-Ökonomie ist Reichweite die wichtigste Währung.

Wie sollen Medien also mit Behauptungen umgehen, die ungeheuerlich sind, aber aus dem Mund, der Feder oder Tastatur von Entscheidern kommen? Journalist*innen werden oft zu Lautsprechern von Politiker*innen. „Er hat gesagt, … sie hat gesagt“ ist nicht nur die ständige Begleitmusik von politischer Berichterstattung, sondern oft auch ihr Kern. „Er hat’s doch gesagt!“ ist die Rechtfertigung dafür. Dahinter steckt die Idee, dass man das politische Personal an seinen Worten messen und in größtmöglicher Transparenz zeigen möchte, mit wem es die Wähler zu tun haben. In dem Fall betrachten Reporter*innen Aussagen als Fakten, die man in ihrem Kontext verstehen muss: Jemand Bedeutendes hat etwas geäußert, das sagt etwas über ihn oder sie aus. Womöglich trägt es zur Entzauberung bei. Reporter*innen haben dabei oft ein gutes Gefühl. Kommen sie doch damit ihrer Verpflichtung nach, möglichst neutral zu berichten.

Kritisch ist aber, dass solche Aussagen nicht neutral nebeneinander stehen bleiben wie Flaschen in einem Regal, aus dem sich jeder nach seinem Geschmack bedienen kann. Denn je lauter und reichweitenstärker sie verbreitet werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Geschehen an sich beeinflussen. Siegestrunkenes Gebrabbel nach Schließung der Wahllokale mag keine Wählerstimme mehr wenden, aber möglicherweise ein paar Menschen dazu motivieren, sich den proklamierten Sieg auch „zu holen“, notfalls mit Gewalt. Je öfter eine Kandidatin im Bild erscheint, desto „normaler“ und wählbarer wird sie, auch wenn sie kein Programm hat. Und je mehr Falsches ein Kandidat auf der Tonspur verbreitet, umso größer ist der Abstumpfungseffekt. Redet jemand viel Blödsinn, werden womöglich noch jene Aussagen hervorgehoben, in denen „er jetzt wirklich mal Recht hat“.

Es ist deshalb sehr wohl entscheidend, darüber zu reflektieren, wann man wem welche Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt. Schließlich werden Falschbehauptungen von Politiker*innen üblicherweise erst von traditionellen Medien in der Fläche verbreitet, auch wenn sie dort dann richtiggestellt werden. Anders als oft angenommen, beeinflussen sie den Diskurs in der Breite noch immer deutlich stärker als soziale Netzwerke. Redaktionen sollten deshalb deutlich mehr darüber berichten, was tatsächlich geschehen ist, als darüber, was jemand gesagt oder angekündigt hat. Jedes journalistische Ressort tut gut daran zu überprüfen, ob in seinen Produkten die entsprechende Balance stimmt. Das ist selten der Fall, denn Zitate aufzulesen ist billig, Recherche ist teuer. Aber Lautsprecher findet das Publikum meist auch anderswo, Recherchen seltener.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 6. November 2020.