Der Abgesang auf die Medienbranche kommt zu früh

Durchforstete man zu Beginn des Jahres 2024 einschlägige Quellen nach Branchenanalysen, entsteht der Eindruck, Beobachter und Protagonisten des journalistischen Treibens hätten sich zum Abgesang verabredet. 

► In The News About the News Business is Getting Grimmer, berichtet die New York Times über die jüngsten Entlassungswellen bei großen Titeln mit dem Verweis, dass in den USA jeder zweite Landkreis keinen Zugang zu Lokaljournalismus mehr habe. 

► Der Medienjournalist Ezra Klein beendete eine Liste sterbender Medienmarken mit dem Resümee, nur die sehr kleinen oder die ganz großen Spieler könnten überleben. 

► Zuvor hatten Reporter der New York Times vorgerechnet, dass Milliardäre wie Jeff Bezos bei ihren Investitionen in den Journalismus nichts anderes erreicht hätten, als sich um ihr Vermögen zu erleichtern. 

► Der New Yorker Medienprofessor Jeff Jarvis stellt die Frage: Is it time to give up on old news?, während ein Kolumnist der Washington Post prognostizierte: Journalism may never again make money

► Nach einem Treffen von Medienmanagern am Reuters Institute in Oxford schrieb der Berater David Caswell, die meisten der Teilnehmenden betrachteten Künstliche Intelligenz als existenzbedrohend. 

Zuversicht klingt anders. Was bedeutet das? Sind alle Versuche, den Journalismus in die nicht mehr ganz so neue digitale Welt zu bringen, vergebliche Liebesmühe?

Tatsächlich klingen auch die von Nic Newman für seinen jährlichen, am Reuters Institute erscheinenden Trend-Report befragten Medienmanager aus aller Welt in diesem Jahr skeptischer als noch 2023. Nicht einmal jeder zweite der mehr als 300 Chefredakteure, CEOs und weiterer Entscheider geht zuversichtlich ins Jahr. Eine der größten Herausforderungen sei, dass immer weniger Nutzer über soziale Netzwerke und Suchmaschinen zu journalistischen Inhalten finden. Der Trend dürfte sich verschärfen, wenn sich Menschen Inhalte nicht mehr von Suchmaschinen sondern von Chatbots servieren lassen. Gleichzeitig leiden immer mehr Titel darunter, dass in einer von Konflikten geprägten Welt viele Nutzer das ständige Bombardement mit Nachrichten nicht mehr ertragen können und deshalb den Medienkonsum vermeiden.

Für eine Zukunft des Journalismus: Daran sollten Medien arbeiten

Glücklicherweise liegen Journalisten, Analysten und Futuristen oft ziemlich daneben mit ihren Einschätzungen. Ein Grund ist, dass sie gerne Scoops produzieren: Jeder will der Erste sein, der den Untergang prognostiziert. Außerdem wirkt der Herdentrieb. Man nimmt die These der Konkurrenz, läuft damit weiter und setzt gerne noch einen drauf. Zudem – und das ist entscheidend – machen sie ihre Rechnungen viel zu oft ohne das Publikum – und das geschieht nicht nur in der Medienbranche. Man stellt Annahmen in den Raum, ohne den Beweis der Wirklichkeit abzuwarten.

Natürlich ist es kaum zu leugnen, dass alte, anzeigenbasierte Geschäftsmodelle, mit denen reichlich Geld verdient wurde, nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt funktionieren. Es ist auch wahr, dass der Verkauf von Digital-Abos einer zähen Bergtour gleicht. Daraus aber zu schließen, man bewege sich zwangsläufig auf eine Welt ohne Journalismus zu, ignoriert ein paar fundamentale Fakten. Der zu früh verstorbene Harvard Professor Clayton Christensen, der die Theorie der Disruption entwickelt hat, hätte geraten, mal über die Jobs to be done nachzudenken, in modernerer Newsroom-Terminologie könnte man auch von User Needs sprechen. Von diesen Jobs gibt es einige: 

Menschen brauchen faktentreue Informationen, um Entscheidungen zu treffen 

Das gilt für Fachleute ebenso wie für Konsumenten, Staatsbürger, Bewohner einer Stadt oder Gemeinde. Die Pandemie hat gezeigt, dass der Journalismus die erste Adresse für diese Informationen ist, wenn viel auf dem Spiel steht. Wer annimmt, das Publikum gäbe sich mit allerlei Content zufrieden, unterschätzt die Bedürfnisse eines Großteils seiner Mitmenschen. Natürlich mögen einige durch Propaganda verführbar sein oder sich von der Welt abkapseln. Das für die gesamte Bevölkerung anzunehmen, zeugt von Überheblichkeit. Eine journalistische Grundversorgung ist deshalb zentral. Hier sind öffentlich-rechtliche Modelle gefragt, um auch ohne Gewinnabsichten alle Generationen und Gesellschaftsschichten auf dem Laufenden zu halten. Regierungen müssen dafür sorgen, sie am Leben zu erhalten.

Menschen sind neugierig und wollen die Welt verstehen 

Journalismus hat einen Bildungsauftrag. Doch dem kommt er nicht immer nach. So manch eine Politik-Story liest sich eher wie der Beitrag des Strebers, der seine Mitschüler im Kampf um gute Noten ausstechen möchte, als wie der Versuch, die gesamte Klassengemeinschaft mitzunehmen. Medien-Führungskräfte scheinen das zu ahnen. Laut dem Trend-Report des Reuters Institutes nennen sie bessere Erklär-Formate und konstruktiven Journalismus als die wichtigsten zwei Strategien, um dem Überdruss entgegenzuwirken. Wer auf diesem Gebiet sein Profil schärfen möchte, sollte sich Ros Atkins‘ The Art of Explanation besorgen. Der BBC-Journalist hat in dem 2023 erschienenen Buch aufgeschrieben, wie akribisch er jene News Explainers erarbeitet, mit denen er sich einen Namen gemacht hat.     

Menschen suchen Gemeinschaft und Zugehörigkeit

Marken, die es schaffen, ein solches Gefühl zu stiften – sei es über politische, geographische oder an Interessen gebundene Identifikation – haben ein gutes Fundament, auf dem sie aufbauen können. Konsumenten wollen zudem ernst genommen werden. Medienmarken wie das dänische Zetland, die die Zeit und Bedürfnisse ihrer Nutzenden respektieren und dosiert erklärenden, hintergründigen Journalismus in verschiedenen Formaten anbieten, treffen durchaus auf zahlungsbereite Kunden. Zetland macht mit einer vergleichsweise jungen Kundschaft Gewinn.   

Menschen wollen den Austausch

Menschen erfreuen sich an der Vielfalt und Schönheit der Welt, sie wollen berührt werden und sich in andere Menschen einfühlen, und sie wollen Freude teilen. Das Buchgeschäft zum Beispiel floriert, obwohl sowohl das Buch als auch der unabhängige Buchhandel schon oft totgesagt wurden. Aber weder hat das E-Book das Werk aus Papier verdrängt, noch konnten Amazon und große Handelsketten dem unabhängigen Buchhandel die Luft abdrücken. Werden sie gut geführt, sind Buchläden Begegnungsstätten, in denen man stöbert, sich austauscht, nach Geschenken und Inspiration sucht. Nach wie vor öffnen Bücher Türen zur Welt, wie es auch der Journalismus tun sollte.

Menschen wollen Eskapismus

Menschen müssen und wollen ihren Alltag bewältigen, und dazu gehört auch Entspannung. Bei manch einem Medienkritiker spürt man förmlich das Naserümpfen darüber, dass die New York Times viele ihrer Digital-Abos wegen der Kochrezepte und Rätsel verkauft. Aber beides deckt fundamentale Bedürfnisse ab, und auch die hat Journalismus traditionell bedient. Das mag nicht zu jeder Marke passen, zur Kundenbindung taugt es allemal.

Der Verkauf von Journalismus ist anspruchsvoll, und KI macht die Sache nicht leichter. Aber wer sich mit den Bedürfnissen potenzieller Nutzergruppen beschäftigt und es schafft, zu ihnen stabile Beziehungen aufzubauen, ist auf dem richtigen Weg. Es ist kein Zufall, dass die pessimistischsten Analysen derzeit aus den USA kommen, wo man amerikanische Phänomene gerne zum globalen Trend erklärt. Doch dort ist die Lage besonders prekär, denn Investoren haben die Regionalmedien ausgesaugt, das öffentlich-rechtliche Grundrauschen fehlt. Aber auch in Amerika entstehen junge Marken, die Gemeinschaft stiften, alte Flaggschiffe halten die Stellung. Das Berufsbild wird sich wandeln, vermutlich auch das, was wir heute unter Journalismus verstehen. Das ändert aber nichts daran, dass Menschen Journalismus brauchen, und zwar überall auf der Welt.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 29. Januar 2024.

Zu gut gemeint – Moderner Journalismus braucht mehr Recherche und weniger Kommentar

Die Intendantin des schwedischen Senders Sveriges Radio, Cilla Benkö, ist in der internationalen Medienszene für ihre Meinungsfreude bekannt. Und genau zu dem Thema bezieht sie so klar Position, wie sonst kaum jemand in ihrer Liga: Kommentare hätten in öffentlich-rechtlichen Programmen nichts zu suchen, sagt Benkö, diese Häuser seien für die Fakten da. Treffer versenkt.

In Deutschlands Groß-Sendern sieht man das bekanntlich anders, wenngleich es durchaus Diskussionen gibt. Immerhin hat ARD Aktuell den Tagesthemen-„Kommentar“ im vergangenen Jahr in „Meinung“ umbenannt. Damit wollte man unterstreichen, dass es sich bei der abendlichen Gardinenpredigt um Meinungen einzelner Kolleg*innen handelt, nicht etwa um die des Hauses. Dem größten Teil des Publikums mag diese Nuance nicht aufgefallen sein, aber man ahnt, was der kleine Schritt intern bedeutet haben muss. Er hätte als Auftakt einer Debatte getaugt, die in der Branche dringend ausführlicher geführt werden müsste: Wie viel Meinung verträgt der Journalismus?

Klar ist, in den digitalen Kanälen ist Meinung ein Ding. Die sozialen Netzwerke leben davon und deshalb auch die Redaktionen, die auf ein paar schnelle Klicks angewiesen sind. Ein pointierter Kommentar bekommt Aufmerksamkeit, und das ist die Währung des Internets. Redaktionen schmücken sich gerne mit Autor*innen, die sich als meinungsstarke Personen-Marken etabliert haben. Sie binden Kund*innen und halten damit die Abonnent*innen bei Laune. Meinung ist billig, denn dazu braucht man nur einen Kopf und einen Computer. Recherche hingegen kostet: Zeit, Geld, Abstimmung, juristisches Risiko. Ohne Meinung also weniger Geschäft.

Und natürlich hat der Kommentar im Journalismus Tradition. In den großen Zeitungsredaktionen gehörte das Verfassen von Meinungsstücken früher zu den vornehmsten Aufgaben von Journalist*innen, zumindest in Deutschland. Wer den Leitartikel schrieb, durfte nicht gestört werden und musste für den Rest des Tages nichts mehr tun. In angelsächsischen Medien gab (und gibt) es spezielle Kommentator*innen-Teams. Sie diskutieren die Position des Hauses, bevor sie jemand im Namen der Redaktion aufschreiben darf. Vor Wahlen legen sie sogar fest, welche Kandidat*innen sie ihren Leser*innen als die geeigneteren ans Herz legen.

Heute allerdings ist Meinung überall – auch in dieser Kolumne. Jeder mit Internetzugang kann nicht nur eine haben, sondern sie auch posten, gerne länglich und regelmäßig, das heißt dann Blog. Privatleute führen solche genauso wie Firmen oder Politiker*innen. Wer nicht meint, findet nicht statt. War im Journalismus früher das Streben nach Neutralität die Default-Einstellung, ist es heute die Meinung.

Unter Journalist*innen haben sich insbesondere die jüngeren die recht bequeme These zurecht gelegt, dass es so etwas wie Objektivität überhaupt nicht gäbe. Das Beharren darauf zementiere lediglich vorhandene Machtstrukturen, weshalb das Meinen die ehrlichere Lösung sei. Im vermeintlich modernen Journalismus ist deshalb das Ich überall, die eigene Erfahrung gilt als Maß der Dinge. Sollen die anderen doch widersprechen.

Nur das Publikum ist sich da nicht so sicher. Laut Digital News Report 2020 wünscht sich der weit überwiegende Teil der Leser*innen, dass sich Medien um Neutralität wenigstens bemühen, in Deutschland lag der Wert bei 80 Prozent und damit an der Spitze der untersuchten Länder. Zumindest laut der Umfrage mögen die Nutzer*innen beides nicht: Meinungen, die ihrer eigenen Position entsprechen und solche, die ihr widersprechen. Sie möchten sich lieber die Fakten anschauen und sich dann selbst eine bilden. Dieses Bedürfnis ist übrigens in jenen Ländern besonders ausgeprägt, die starke öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten haben, denen Unparteilichkeit zumindest immer einen Versuch wert ist. Der diesjährige Digital News Report, der am 23. Juni veröffentlicht wird, wird sich dieses Themas in einem Schwerpunkt widmen.

Redaktionen stellt dies vor Herausforderungen. Der Wunsch der Leser*innen ist schließlich nachvollziehbar. Wenn Meinung überall ist, sind Fakten kostbare Ware. Nur mit gut recherchierten Geschichten kann man sich abheben vom allgemeinen Befindlichkeits-Gebrumm. Kommentare mögen zwar gut sein für Klicks, aber Abos generieren dann doch eher jene Geschichten mit hohem Informationsgehalt – von denen der starken Personenmarken (siehe oben) mal abgesehen. Anders als in der Zeitung ist im Newsfeed der sozialen Netzwerke zudem kaum ersichtlich, hinter welcher Überschrift sich eine Nachricht und hinter welcher sich eine Meinung verbirgt. Zumal ein Kommentar ohne Fakten recht nackt dasteht, weshalb im Netz ohnehin nur eine Mischform funktioniert. Also lieber ganz weg mit der Meinung?

Evan Smith, Gründer und CEO der vielfach preisgekrönten, auf Politikberichterstattung spezialisierten amerikanischen Regionalzeitung The Texas Tribune, kommentiert dies mit einem eindeutigen Ja. In seiner Redaktion dürfen Politikredakteur*innen keiner Partei angehören, keine Wahlplakate in ihre Vorgärten stellen, ja nicht einmal zur Wahl gehen. „Wir sind unparteiisch wie ein Herzinfarkt“, sagte er einmal auf einer Konferenz in Oxford, dies sei die Tribune ihrem Publikum schuldig.

Ganz so weit werden wohl die wenigsten Redaktionen gehen. Aber wirklich moderner Journalismus täte gut daran, die Recherche rauf- und die Meinung runterzufahren, wenn er sich unverzichtbar machen will. Dies wäre ein Dienst an einem Publikum, das der haltenden Hand der Meinungsjournalist*innen längst entwachsen ist. Nur haben einige von ihnen dies noch nicht gemerkt.

Sie könnten sich bei Hillary Clinton erkundigen. Kaum eine amerikanische Redaktion hatte die Kandidatin der Demokraten 2016 nicht empfohlen, gewählt wurde bekanntlich ein anderer. Das hatte Clinton viel Kummer, der Welt viel Stress und den Medien viel Arbeit gebracht. Geblieben ist hoffentlich eine Erkenntnis, die jede Redaktion an jedem Tag leiten sollte: nie das Publikum unterschätzen.

Diese Kolumne erschien am 6. Mai 2021 im Newsletter des Digital Journalism Fellowships der Hamburg Media School. 

„Er hat’s doch gesagt!“ Auch Zitate sind Fakten, aber wie damit umgehen?

Es war ein Moment zum Luftanhalten, als sich US-Präsident Donald Trump im November 2020 inmitten der Wahl vor laufenden Kameras zum Sieger erklärte. „Frankly, we did win this election“, sagte er in einer Ansprache im Weißen Haus, die vor falschen Behauptungen nur so strotzte. Wer freie, gleiche und geheime Wahlen als vornehmste Disziplin der Demokratie wertschätzt, kann das Video der Rede nur mit Mühe ertragen. Klar ist, in so einem Fall müssen Journalist*innen berichten. Das ist ein Zitat für die Geschichtsbücher, gerade weil es das bestätigt, was man schon seit etwa vier Jahren weiß, nämlich dass sich Trumps Respekt für den demokratischen Prozess nur wenig über der Nulllinie bewegt. Hat es aber deshalb eine Eilmeldung verdient? Nicht wirklich, denn in der Hitze der Nacht könnte so manch einer die ohne Kontext auf dem Sperrbildschirm zitierte Behauptung als Tatsache gelesen haben.

Immerhin waren die großen amerikanischen Sender dieses Mal vorbereitet und auf der Hut. Sie unterbrachen ihre Live-Schalten und klärten ihr Publikum darüber auf, dass die Wahl keinesfalls schon entschieden sei. „Lassen Sie uns offen sein: Das ist das Theater autoritärer Regimes“, sagte ABC-Reporter Terry Moran. Und selbst der dem Präsidenten nahestehende Sender Fox News rückte seine Behauptungen gerade. Der Präsident habe hier ein Streichholz in eine leicht entflammbare Situation geworfen, sagte deren Moderator Chris Wallace. Die vielfach gescholtenen sozialen Netzwerke Twitter und Facebook versahen entsprechende Tweets mit dem Hinweis, hier sei noch alles offen.

Journalist*innen lernen dazu, aber es fällt ihnen immer noch schwer, mit einem Präsidenten umzugehen, der mit den Medien zu spielen versucht wie auf einem Klavier. Seine Taktik ist so durchschaubar wie schwer zu fassen: Erstens diskreditiert er die Branche als Ganzes, um das Vertrauen in die vierte Gewalt als Institution zu untergraben. Zweitens produziert er Berge an Inhalten, die es über die Reizschwelle der Aufmerksamkeits-Ökonomie schaffen und setzt damit die Agenda. Redaktionen verwenden eine Menge Ressourcen darauf, über entsprechende Tweets zu berichten und Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Drittens geht es ihm um Dauerpräsenz in den Medien. Schon im Wahlkampf 2016 war es Trump gelungen, um ein Mehrfaches so häufig in Bild, Text und Tonspur zu erscheinen, wie seine Mitbewerberin Hillary Clinton. Als Amtsinhaber flog ihm das Interesse naturgemäß zu.

Mit dieser Taktik suggeriert Trump seinen Anhängern Aktivität, Virilität und Kampfgeist – all das, was sie an ihm schätzen. Dazu gehört sein Hang zum Bruch mit Regeln und Konventionen. Klar ist, dass 2020 mehr Menschen für Trump gestimmt haben als vor vier Jahren, nicht trotz sondern wegen seiner Rhetorik und Strategie. In der Aufmerksamkeits-Ökonomie ist Reichweite die wichtigste Währung.

Wie sollen Medien also mit Behauptungen umgehen, die ungeheuerlich sind, aber aus dem Mund, der Feder oder Tastatur von Entscheidern kommen? Journalist*innen werden oft zu Lautsprechern von Politiker*innen. „Er hat gesagt, … sie hat gesagt“ ist nicht nur die ständige Begleitmusik von politischer Berichterstattung, sondern oft auch ihr Kern. „Er hat’s doch gesagt!“ ist die Rechtfertigung dafür. Dahinter steckt die Idee, dass man das politische Personal an seinen Worten messen und in größtmöglicher Transparenz zeigen möchte, mit wem es die Wähler zu tun haben. In dem Fall betrachten Reporter*innen Aussagen als Fakten, die man in ihrem Kontext verstehen muss: Jemand Bedeutendes hat etwas geäußert, das sagt etwas über ihn oder sie aus. Womöglich trägt es zur Entzauberung bei. Reporter*innen haben dabei oft ein gutes Gefühl. Kommen sie doch damit ihrer Verpflichtung nach, möglichst neutral zu berichten.

Kritisch ist aber, dass solche Aussagen nicht neutral nebeneinander stehen bleiben wie Flaschen in einem Regal, aus dem sich jeder nach seinem Geschmack bedienen kann. Denn je lauter und reichweitenstärker sie verbreitet werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Geschehen an sich beeinflussen. Siegestrunkenes Gebrabbel nach Schließung der Wahllokale mag keine Wählerstimme mehr wenden, aber möglicherweise ein paar Menschen dazu motivieren, sich den proklamierten Sieg auch „zu holen“, notfalls mit Gewalt. Je öfter eine Kandidatin im Bild erscheint, desto „normaler“ und wählbarer wird sie, auch wenn sie kein Programm hat. Und je mehr Falsches ein Kandidat auf der Tonspur verbreitet, umso größer ist der Abstumpfungseffekt. Redet jemand viel Blödsinn, werden womöglich noch jene Aussagen hervorgehoben, in denen „er jetzt wirklich mal Recht hat“.

Es ist deshalb sehr wohl entscheidend, darüber zu reflektieren, wann man wem welche Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt. Schließlich werden Falschbehauptungen von Politiker*innen üblicherweise erst von traditionellen Medien in der Fläche verbreitet, auch wenn sie dort dann richtiggestellt werden. Anders als oft angenommen, beeinflussen sie den Diskurs in der Breite noch immer deutlich stärker als soziale Netzwerke. Redaktionen sollten deshalb deutlich mehr darüber berichten, was tatsächlich geschehen ist, als darüber, was jemand gesagt oder angekündigt hat. Jedes journalistische Ressort tut gut daran zu überprüfen, ob in seinen Produkten die entsprechende Balance stimmt. Das ist selten der Fall, denn Zitate aufzulesen ist billig, Recherche ist teuer. Aber Lautsprecher findet das Publikum meist auch anderswo, Recherchen seltener.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 6. November 2020.

„Fake News“ und die Corona-Krise: Das Problem sind die „Real News“

Es war am 2. Februar 2020. Weltweit hatten Behörden gerade einmal knapp 15 000 an Covid-19 erkrankte Patienten registriert. Noch schlummerten die Karnevalskostüme in den Schränken, die Skier für die Ferien in Wolkenstein oder Ischgl warteten auf ihren Schliff. Für Reisen empfahl die Weltgesundheitsorganisation keine besonderen Vorkehrungen. Auch von einer Pandemie sprachen die WHO-Experten zu jenem Zeitpunkt nicht, den man jetzt getrost mit „damals“ bezeichnen darf. Allerdings fürchteten sie eine massive “Infodemic“. Eine Flut an Informationen mache es den Menschen schwer, richtig und vertrauenswürdig von falsch und manipuliert zu unterscheiden und sich entsprechend zu verhalten, hieß es in der entsprechenden Präsentation.

Nun regiert die Pandemie, und die Menge an Falschmeldungen dürfte mindestens proportional zu den Fallzahlen gewachsen sein. Aber wie schlimm ist das Problem der „Fake News“ im Zusammenhang mit Covid-19 wirklich? Und muss man es ebenso fürchten wie das Virus? Oder verhält es sich damit wie mit dem gesamten Komplex der „Misinformation“: dass die Berichterstattung darüber oft massiver ist als das Problem selbst?

Forscher des Reuters Institute for the Study of Journalism und des Internet Institute an der Universität Oxford haben die Lage kürzlich in einem Kurzreport beleuchtet. Er basiert auf einer Analyse von 225 Stücken an englischsprachigen Falschinformationen, die zwischen Januar und März publiziert und von der Fact-Checking-Organisation First Draft untersucht wurden. Die Stichprobe hat den Nachteil, dass sie keine Meldungen aus privater Kommunikation wie WhatsApp oder anderen Messenger-Diensten erfasst und sich nur auf den englischen Sprachraum konzentriert. Dennoch untermauert das Ergebnis einige Erkenntnisse, die auch frühere Studien zum Komplex „Fake News“ zutage gefördert haben.

Die wichtigsten: Bei den meisten als falsch klassifizierten Nachrichten handelt es sich nicht um komplett erfundene Inhalte, sondern um Informationen, die verfälscht oder in einem anderen Zusammenhang weiterverbreitet wurden (59 Prozent). Berücksichtigt man die Masse der Interaktionen, hat dieser Typus der Falschinformation sogar einen Anteil von 87 Prozent. „Deep Fakes“, also Inhalte, die mit aufwändigen technischen Mitteln manipuliert wurden, fanden die Forscher überhaupt nicht. Schon frühere Forschung hatte ergeben, dass es beim Problem „Fake News“ überwiegend nicht um jene Troll-Fabriken geht, die eigens gebastelte Inhalte massenhaft um die Welt verbreiten. Viel häufiger handelt es sich um Informations-Schnipsel, die nach dem Prinzip „Stille Post“ bewusst oder unbewusst falsch wiedergegeben werden.

Zudem fanden die Forscher Bestätigung dafür, dass Misinformation häufig „von oben“ kommt, insbesondere, was ihre Verbreitung angeht. Wurden falsche Inhalte wie in einem Fünftel der untersuchten Fälle von Prominenten geteilt, also zum Beispiel von Spitzenpolitikern oder Schauspielern, hatten sie eine weit höhere Durchschlagkraft (69 Prozent) als Posts von Menschen ohne Funktion und Bekanntheit. Als US-Präsident Donald Trump beispielsweise das Malaria-Mittel Hydroxychloroquine im Zusammenhang mit Covid-19 erwähnte, waren die Leidtragenden nicht etwa nur Fox-News-hörige Amerikaner. Nein, Kranke in Nigeria erlitten Vergiftungen. Die Falschmeldung, die das Mittel als vermeintlich wirksam gegen Covid-19 erwähnt hatte, war übrigens zunächst mit dem Absender Stanford University in der Tech-Szene des Silicon Valley zirkuliert und unter anderem von Elon Musk weiterverbreitet worden, wie Joan Donovan für das Wissenschaftsmagazin Nature nachzeichnete. Sie sieht die Verantwortung, gegen Falschinformationen vorzugehen, vor allem bei den Tech-Unternehmen. „Social media companies must flatten the curve of misinformation“, schreibt sie. Falschmeldungen gehörten früh „in Quarantäne“, und dafür sollten die Social Media Unternehmen mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Seien „Fake News“ erst einmal großflächig verbreitet, könne man sie kaum zurückholen.       

Felix Simon war einer der an dem Oxford-Report beteiligten Forscher des Internet Institute. Er sagt: „Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die schiere Vielfalt an Misinformation rund um das Corona-Virus und die Pandemie. Von Verschwörungstheorien bis hin zur Behauptung, die Simpsons hätten die Pandemie vorhergesagt, ist so ziemlich alles dabei.“ Die wichtige Botschaft ist aber: An der Menschheit zweifeln muss man deshalb nicht. „Vorhandensein bedeutet nicht Effekt“, so Simon, „die Mehrheit der Menschen scheint sich vernünftig zu verhalten und diesen Dingen nicht auf den Leim zu gehen“.

Ein weiterer, aktuellerer Report des Reuters Institute legt nahe, dass in der Corona-Krise zwar viele Falschinformationen kursieren und gesehen werden, dies aber vor allem an der Vertrauenswürdigkeit der Plattform-Unternehmen kratzt. Die Krise hat offenbar dazu geführt, dass sich viele Bürger wieder den traditionellen Medien oder Wissenschaftlern und Behörden direkt zuwenden, wenn sie verlässliche Informationen suchen. Das, was Bekannte und Verwandte über Facebook teilen, wird offenbar nicht so ernst genommen.    

Tatsächlich ist das Phänomen „Fake News“ meist weniger dramatisch, als es die Berichterstattung darüber suggeriert, dies hatten auch schon frühere Ausgaben des Digital News Report ergeben. Generell kann man sagen, dass gewöhnlich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung damit in Berührung kommt und ein noch kleinerer Teil anfällig dafür ist und sie weiterverbreitet, darunter überdurchschnittlich viele ältere Menschen. Für die Medienbranche heißt das: Es ist zwar wichtig, Lügen zu entlarven. Nur sollten Redaktionen ihre Energien nicht gänzlich darauf verschwenden. Weitaus wichtiger ist es, Fakten zu recherchieren und entsprechende Erkenntnisse zu verbreiten. Und gerade das ist die Herausforderung in der Corona-Krise. Es gibt wenige gesicherte Fakten und Zusammenhänge. Forscher sind in einem ständigen Dialog und versuchen, sich der Wahrheit anzunähern, studieren und verwerfen wieder. So geht Wissenschaft.

Für Journalisten und Politiker ist genau das eine Herausforderung. Politiker müssen jetzt entscheiden, Journalisten müssen jetzt Empfehlungen geben und die Seriosität ihrer Politiker bewerten. Es bleibt keine Zeit, auf die Ergebnisse aller Studien zu warten. So manch eine Infografik erweist sich da als Design-Friedhof, so manch eine Empfehlung als überholt. Galt zum Beispiel vor ein paar Wochen noch die Ansage, Maskenpflicht für Gesunde im öffentlichen Raum sei Unsinn, wird sie in manchen Ländern jetzt umgesetzt.

In einem Artikel für das US-Portal Recode hat sich Peter Kafka mit der Berichterstattung amerikanischer Medien über das Virus beschäftig: „What went wrong with the media’s coronavirus coverage?“, fragt er darin und schlussfolgert, aktueller Journalismus sei sehr schlecht darin, Risiken angemessen zu kommunizieren. Das gilt zumal dann, wenn Risiken so schwer abzuschätzen sind wie im Fall Corona, weil es noch keine Vergangenheit gibt, die man ordentlich ausmessen kann. Eine Münchner Regional-Zeitung, die auf der Titelseite mit dem „großen Corona-Faktencheck“ wirbt, mag man deshalb zwar für ihre erzieherischen Verdienste loben. Doch wer weiß schon, ob morgen noch gilt, was heute als „richtig“ angekreuzt wurde? Den Medien bleibt deshalb nur das, was den besseren Journalismus schon immer ausgezeichnet hat: dranbleiben. Denn selbst die WHO kann sich irren.

Dieser Text entstand für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School im April 2020