Der schwedische öffentlich-rechtliche Rundfunk nimmt seinen Aufklärungs- und Bildungs- Auftrag äußerst ernst. Dazu gehört zum Beispiel, dass Redakteurinnen und Redakteure dort keine Kommentare verfassen dürfen. „Wir sind für die Fakten da“, betont Radio-Intendantin Cilla Benkö regelmäßig bei öffentlichen Auftritten. Dies entspreche den Werten von Public Service Medien. Künftig möchte Sveriges Radio (SR) das Ringen um diese Werte nicht mehr nur allein den Kolleg*innen überlassen. Ein eigens für den Sender entwickelter Algorithmus soll dafür sorgen, dass es in den digitalen Angeboten mehr Vielfalt und Personalisierung gibt. Dies soll den Journalismus für ein breiteres Publikum interessant machen.
„Wir sind davon überzeugt, dass das neue Modell die Qualität unseres Journalismus verbessert“, schreibt der Chefredakteur für Digitales, Olle Zachrison, in einem Blog Post der London School of Economics, wo er am Forschungsprojekt Journalismus und Künstliche Intelligenz beteiligt ist. Dies gelte nicht nur für die Verpackung und Verteilung, sondern auch für die Inhalte der einzelnen Geschichten.
Man kann dies getrost eine starke journalistische Innovation nennen – oder auch einen Angriff aufs journalistische Bauchgefühl. Denn wenn man ehrlich ist, trifft die Intuition, auf die Redakteur*innen jahrzehntelang so stolz waren, nicht immer die beste Entscheidung im Sinne der Allgemeinheit. Weil Redaktionen gemeinhin nicht sehr divers sind, ist es auch ihr Output oft nicht. Und statt die algorithmische Auswahl von Inhalten den Plattform-Konzernen zu überlassen, die nach ihren eigenen Bedürfnissen optimieren, geht SR nun in die Offensive und baut das: einen Algorithmus mit Werten.
Nach welchen Kriterien die schwedischen Kolleg*innen ihn füttern, lässt sich am besten in Zachrisons Text nachlesen. Aber dass so etwas passiert, ist fast noch interessanter als das „Wie“. Immerhin befindet man sich in einer Branche, die zwar in allerlei an „die Politik“ gerichteten Kommentaren lautstark Innovationsfreude einfordert, sich aber selbst an vielen Orten eher durch das Gegenteil auszeichnet – zum Beispiel in Deutschland.
Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls ein jüngst veröffentlichtes Gutachten im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. „Die Innovationslandschaft des Journalismus in Deutschland“, heißt es nüchtern, aber die Botschaft ist eindringlich: An neuen Ansätzen und Projekten, die die von Krisen geprägte Branche wirklich weiterbringen, fehle es allerorten. Die Autoren Christopher Buschow und Christian-Mathias Wellbrock nennen eine lange Liste von Gründen dafür. Ein Mangel an Gründergeist und Talenten, Defizite in der Ausbildung, eine fehlende Verzahnung von Forschung und Praxis, träge etablierte Verlage, rechtliche Hürden sowie eine dem journalistischen Berufsstand eigene skeptische Grundhaltung gehörten dazu. Außerdem fehlten Kapitalgeber*innen mit längerem Atem. Allerdings seien Netzwerke der Innovation am Entstehen, beobachten die Autoren, die ihren Job schlecht gemacht hätten, würden sie nicht eine ebenso lange Liste an Verbesserungsvorschlägen liefern.
Nun wäre es ungerecht, die Medienszene in Deutschland in einer Art Dämmerschlaf zu vermuten. In vielen großen Häusern gibt es hoch innovative Abteilungen mit dem Potential, andere anzustecken, und hier und da gedeihen spannende Start-ups. Aber die Dringlichkeit, etwas für die Zukunft des Journalismus als solches zu tun, wird noch nicht überall gesehen. Die großen Marken sind weitgehend mit sich selbst und ihren Interessen beschäftigt, statt sich zu verbünden. Anders als in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel Österreich, hat man die Förderung von journalistischen Innovationen viel zu lange allein Google und Facebook überlassen – um sich dann gerne über die Abhängigkeit von den amerikanischen Konzernen zu beschweren. Und anders als zum Beispiel in den USA spielen Stiftungen bei der Unterstützung von Journalismus, Journalisten-Ausbildung und Journalismus-Forschung nur eine untergeordnete Rolle.
Selbst wenn es dann Geld gibt, weiß niemand so recht, wie man es verteilen soll. Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung den Verlagen im Nachtragshaushalt zum Corona-Paket im Juli für die kommenden Jahre 220 Millionen Euro für die digitale Transformation zugesagt hat, ohne dass dafür bislang das Geringste eines Konzepts bekannt geworden ist. Man kann von kräftiger Lobbyarbeit im Hintergrund ausgehen. Wie genau definiert man schließlich digitale Transformation?
Anfangen kann man bei so einer Aufgabe immer mit dem erwünschten Ergebnis. Es muss um einen Journalismus gehen, der mehr Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit inhaltlicher Qualität erreicht, als dies der gegenwärtige tut. Es geht um Inhalte, Ausbildung, Technologie und Werte. Sich die Hoheit über die Algorithmen zurückzuerobern, wie dies Sveriges Radio macht, ist dabei ein wichtiger Schritt. Starker Journalismus für alle – in der digitalen Medienwelt steht das Projekt noch am Anfang.
Wirecard:Eine Pleite – auch für den (deutschen) Wirtschaftsjournalismus
Man könnte sagen, im Nachhinein sind alle schlauer. Im Vorhinein war es nur die Financial Times (FT). Wer die Timeline der Ereignisse rund um den Niedergang des im Dax gelisteten und nun insolventen Finanzdienstleisters Wirecard liest (die FT bietet das Stück ausnahmsweise gratis an), erschrickt schon ein wenig ob der Arglosigkeit vieler Beteiligter, seien es der Wirtschaftsprüfer EY, die deutschen Finanzbehörden – oder heimische Wirtschaftsjournalisten. Statt angesichts der ausdauernden und intensiven Recherchen des britischen Pflicht-Mediums für Wirtschafts- und Finanzakteure hellhörig zu werden, neigte man hier der Sicht der Behörden zuzustimmen, die dem britischen Reporter Dan McCrum unlautere Arbeit vorgeworfen hatten. Sogar die Staatsanwaltschaft München ermittelte gegen den Journalisten. Im Februar zeichnete der Branchendienst Meedia
die Auseinandersetzung um die FT-Berichterstattung nach.
Nun gebührt den FT-Kolleg_innen um McCrum Ehre, ein paar Preise werden wohl drin sein. Großes Lob verdient auch die Chefredaktion, die sich trotz aller Angriffe von außen klar vor das Team stellte. So soll es sein. Als nächstes fragt man sich allerdings: Warum haben Journalist_innen in Deutschland nicht aufgemerkt? Waren sie zu nah dran, oder eher zu weit weg? Denn wenngleich ein Journalist aus London die Story ausgegraben hatte, fand er Unterstützung in Südostasien, wo sich kaum ein deutsches Medienhaus noch Korrespondent_innen leisten kann (die FT hat dort fünf festangestellte Reporter_innen und mehrere Stringer_innen).
Einer der Gründe dürfte sein, dass noch immer zu viel „Er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus betrieben wird, vor allem hierzulande. Man betrachtet es schon als Scoop, wenn ein Behördenvertreter oder ein anderer Offizieller einem etwas steckt, das andere nicht wissen. Das hat man dann „exklusiv“. Bernd Ziesemer, ehemals Chefredakteur des Handelsblatts, hat diese Dynamik in einem Gastbeitrag gut beschrieben – der erschien bezeichnenderweise in der FT. Professionelle Kommunikator_innen wissen und nutzen das, indem sie mal dieses, mal jenes Medium bedienen und auf diese Weise gewogen halten.
Da Medienhäuser die Konkurrenz untereinander immer noch als Treiber von Innovation betrachten, geben sich Journalist_innen mit solchem Ruhm auf Zeit zufrieden. Ihrem Publikum dienen sie damit eher nicht. Das hätte im Fall Wirecard von einer schnelleren Aufklärung profitiert – zumindest die wichtigen Fonds hätten dann wohl ihre Posten zeitiger umgeschichtet und Anleger_innen vor herben Verlusten bewahrt. Kein Wunder, dass sich deutsche Mediennutzer_innen in Umfragen einigermaßen skeptisch dazu äußern, ob Journalist_innen mächtige Personen und Unternehmen ausreichend kontrollieren. Nur 37 Prozent gaben das in der deutschen Stichprobe des Digital News Report 2019 zu Protokoll, jüngere Leute waren noch deutlich skeptischer.
Große investigative Recherchen scheitern einerseits oft daran, dass dafür nur die wenigsten Redaktionen Kapazitäten haben. Andererseits fehlen vielen Reporter_innen dafür auch Handwerk und Training. Wie man sich Schritt für Schritt an eine Hypothese heran arbeitet und dann genügend Material und Daten anhäuft, um sie zu belegen oder zu verwerfen, lernt man nicht, wenn man im Volontariat stundenlange Newsdesk-Dienste absolvieren, im Akkord Seiten bauen oder Agenturen plus Google zu sendefähigem Material verquicken muss. Und mit ein, zwei schnellen Interviews zwischendurch ist es auch nicht getan.
Die Journalisten-Ausbildung sollte sich deshalb lieber früher als später darauf werfen, Reporter_innen in investigativen Methoden zu trainieren. Denn die Zukunft des Journalismus liegt genau auf den Feldern, auf denen andere nichts zu bieten haben in einer Welt, in der jeder veröffentlichen kann. Kommentieren kann jede/r Blogger_in, wenngleich nicht immer so, wie man das auf der Journalistenschule lernt. Auf künstliche Intelligenz gestützte Programme werden früher oder später in der Lage sein, Meldungen aller Arten selbst zu schreiben. Selbst einfache Interviews können Bots schon führen, die Homepage bestücken sowieso. Aber in mühevoller Denk- und Such-Arbeit Missständen auf die Spur zu kommen, und dies mit unabhängiger Perspektive zu tun, für diese Aufgaben ist kein anderer Berufszweig gleichermaßen ausgestattet.
Außerdem sollten Medienmarken genau darüber nachdenken, wen sie als Konkurrent_innen und wen als möglichen Kooperationspartner_innen betrachten. Investigativer Journalismus ist häufig teuer und aufwändig, da geht es nicht ohne Zusammenarbeit. Nun muss nicht jede Recherche in Projekte à la Panama Papers ausufern – die Großrecherche wäre ohne das beteiligte internationale Journalisten-Konsortium gar nicht möglich gewesen. Aber im Sinne der Bürger_innen zu denken heißt oft, alte Eitelkeiten über Bord zu werfen. Man kann Stoffe dann immer noch so aufbereiten, dass sie vor allem die eigenen Nutzer_innen begeistern. In der digitalen Informations- und Ablenkungswelt konkurrieren Medienmarken häufig nicht mehr gegen einen anderen Verlag. Ihr größter Gegner ist die Abstinenz des Journalismus.
Job Titel: Managing Roboter
Automatisierung in der Redaktion, für manch einen mag das nach Arbeitsplatzabbau klingen. Tatsächlich kann sie Medienhäusern beim Überleben helfen und den Journalismus verbessern. Es kommt ganz darauf an, was man damit macht.
Wenn Unternehmen jetzt für Produkte werben, die Corona im Titel tragen, stellt sich zuweilen Misstrauen ein. Schließlich gilt: Keine Krise ohne Krisengewinnler, und nicht jeder hat das Gewinnen verdient. Brauchen Redaktionen also „Corona Watch“? Der Bot wertet automatisch wichtige Quellen zur Krisenlage aus und alarmiert Redakteure und Reporter über einen Slack Channel. Die Redaktion legt vorher Quellen und Kriterien fest.
Die Redaktion der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet findet: ja. Chef vom Dienst Michael Poromaa sagt, das Tool entlaste sein Team nicht nur, es verschaffe ihm auch einen Wettbewerbsvorteil. Man hätte sonst 21 Seiten der lokalen Gesundheitsbehörden ständig selbst aktualisieren müssen, so Poromaa. „Vorher waren wir oft maximal die zweiten, die über neue Fälle berichtet hatten, jetzt sind wir die ersten.“
Entwickelt hat „Corona Watch“ die schwedische Firma United Robots, die diverse automatisierte Lösungen für Redaktionen anbietet. Aftonbladet sei mit der Idee gekommen, innerhalb eines Tages habe man sie umgesetzt, sagt Cecilia Campbell. Campbell berät United Robots, zuvor hat die Journalistin Redaktionen für die World Association of News Publishers (Wan-Ifra) beim Aufbau von Bezahlangeboten unterstützt. In Skandinavien hat man wenig Berührungsängste, was den Roboter-Journalismus angeht, im Gegenteil. „Wer es sich noch leisten kann Journalisten einzustellen, setzt sie lieber auf größere Recherchen an“, sagt Campbell. Viele einfache Aufgaben hingegen könne man gut an Roboter auslagern.
Viele Verlage glauben, dass Automatisierung der Branche beim Überleben helfen kann. Stefan Aberg zum Beispiel leitet ein Team von gerade einmal zwei Dutzend JournalistInnen beim schwedischen Medienhaus VK Media. Es sei unmöglich, damit alle Kundenbedürfnisse zu erfüllen, sagte er 2019 auf einer Konferenz. Die Lösung: „Wir bauen eine Armee von Robotern.“ Man habe Bots für alles Mögliche: Wetter, Verkehr, Grundstücksverkäufe, Sportwettkämpfe. Seitdem die Redaktion sie großflächig verwende, sei die Zahl der Digital-Abonnenten um 70 Prozent gestiegen.
Schon heute setzen Redaktionen überall auf der Welt künstliche Intelligenz ein. Die größte Rolle spielt sie bislang im Marketing. Bots machen Leserinnen und Lesern automatisiert Abo-Angebote oder beliefern sie mit personalisierten Inhalten. Manch einer sagt, sie hören dem Publikum besser zu als Journalisten, weil sie Daten entsprechend schnell auswerten können. Einige Redaktionen trauen künstlicher Intelligenz zu, ihre Homepages besser und vorurteilsfreier zu bestücken, als sie das selbst schaffen würden. Die kanadische Globe and Mail zum Beispiel lässt von Software sicherstellen, dass täglich auch Inhalte „vorne“ spielen, die für Minderheiten interessant sind. Auch bei Projekten des Datenjournalismus und bei der Überprüfung von Fakten kommt Automatisierung häufig zum Einsatz. Manch eine Redaktion lässt von Bots feststellen, ob das Geschlechterverhältnis der zitierten Quellen ausgewogen ist.
Deutlich weniger Medienhäuser delegieren das Texte-Schreiben an Roboter. Diese Möglichkeit setzen vor allem Nachrichtenagenturen ein, denn sie müssen eine Grundversorgung bieten und deshalb viele Routine-Arbeiten erledigen. Die amerikanische AP gehörte zu den ersten Anwendern, die Quartalsberichte von Unternehmen automatisch erstellen ließ. Wo Reporter früher ein paar Hundert Firmen abdeckten, kommen Roboter heute auf ein paar Tausend im Vierteljahr. Die Washington Post hat ihre Wahlberichterstattung mit Hilfe von KI-Tools massiv ausgebaut.
Droht den Redaktionen damit ein Kahlschlag? Es sagt viel über den Zustand der Branche aus, dass nicht einmal die Gewerkschaften den Roboter-Journalismus als Teufelszeug verdammen. Job-Abbau und Sparprogramme gibt es schon seit Jahren, jetzt geht es darum zu retten, was zu retten ist. Und das schaffen Redaktionen am besten, indem sie ihre Kunden flächendeckend bedienen – mit exklusiven, von Reportern recherchierten Geschichten und beliebter Standardware gleichermaßen. Zu letzterer Kategorie gehören die lokal angepassten Wetter- und Stauberichte, um sie zu erstellen, muss niemand jahrelang zur Journalistenschule gehen.
Je früher sich Redaktionen mit den Möglichkeiten von KI und Roboter-Journalismus befassen desto besser. Denn wer sich gut auskennt, lässt sich seltener Lösungen andrehen, die kein Mensch braucht. Es geht schließlich darum, den eigenen Journalismus besser zu machen. Und das wird er nicht, wenn man Leserinnen und Leser nur mit Masse erdrückt. Außerdem hilft ein Blick auf eine Ethik-Checkliste, wie sie der ehemalige AP-Journalist und Berater Tom Kent erarbeitet hat. KI-Journalismus ist immer nur so gut, wie die Daten sind, mit denen er gefüttert wird und die Vorgaben, die ihm gemacht werden.
United Robots bietet übrigens auch ein Tool für Sportredaktionen an. Nach dem Spiel schickt es Trainern automatisch Interview-Fragen, sie orientieren sich am Spielverlauf. Aus den Antworten bastelt der Bot einen Text. Sportreporter müssten sich also gar nicht groß umstellen, sobald es wieder Wettkämpfe gibt. Sie könnten sich weiterhin auf all die hintergründigen Geschichten konzentrieren, die ihnen gegenwärtig so gut gelingen. Den Nach-dem-Spiel-Bericht schriebe Kollege Roboter. Dem Journalismus täte das gut.
Copyright: Alexandra Borchardt 2020, Beitrag für einen Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.
Zum Weiterlesen:
- Nicholas Diakopoulos, Automating the News, Harvard University Press, 2019.
- Noam Lemelshtrish Later (ed.), Robot Journalism: Can Human Journalism Survive?, World Scientific, 2018
Vom guten Ton – Wie Sprachassistenten die Gesellschaft verändern könnten
Wie sich das mit der Höflichkeit entwickeln wird, ist noch nicht ganz ausgemacht. Die einen vermuten, dass wir uns die Welt künftig nur noch im Befehlston erobern. „Alexa, bestell mir Pizza Funghi!“, „Google, weck mich morgen um sieben!“ – noch verstehen die Sprachroboter, die uns zunehmend umgeben, klare Ansagen am besten. Und wenn man nicht aufpasst, kann das leicht zu „Martin, bring den Müll runter!“ werden, was Martin nicht ganz so entspannt kommentieren dürfte wie die nette Stimme aus dem Off.
Andere hingegen meinen zu beobachten, dass Nutzer der Spracherkennung ihre Wünsche von sich aus gerne mit einem „Bitte“ beenden. Und schließlich sei es kinderleicht, dem Roboter einzuprogrammieren, dass er einem ein solches Höflichkeits-Signal abverlangt, bevor er im Sinne des Auftraggebers tätig wird. Das werde eine neue Generation von höflichen Kindern heranziehen, die der Oma dann sprachlich mit genauso viel Respekt begegnen würden wie Alexa und Co., vermuten manche. Beide Thesen werden sich in wissenschaftlichen Arbeiten überprüfen lassen, denn Daten dürften bald reichlich zur Verfügung stehen.
Wie die Voice Technologie den Umgang mit dem Internet und damit womöglich die Gesellschaft verändern kann, wird sich schwieriger überprüfen lassen. Einerseits könnte sie zum großen Demokratisierer werden, den digitalen Graben überbrücken und alle ans Netz anschließen, denen das Digitale bislang zu fremd, zu kompliziert oder aus anderen Gründen verschlossen war. Andererseits könnte es uns zu noch beflisseneren Vasallen der mächtigen Plattform-Konzerne machen: durchschaubar, denkfaul und orientierungslos.
Die optimistische Variante geht so: Künftig muss man sich weder über ein Smartphone beugen noch auf einen Bildschirm starren, um sich in der vernetzten Welt kompetent zu bewegen, ja man muss noch nicht einmal lesen und schreiben können. Wer sich sprechenderweise bemerkbar machen und Wünsche äußern kann, hat Zugang zu allen Dienstleistungen, die über das Internet zur Verfügung stehen – vorausgesetzt, der Roboter erkennt nicht nur die Sprache sondern auch den jeweiligen Dialekt. Damit könnten auch Analphabeten online tätig werden. Geschätzt haben 700 Millionen Menschen mehr oder weniger große Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben, also etwa jeder zehnte.
Aber auch diejenigen, denen „all der Digitalkram“ bislang zu kompliziert war, könnten Gefallen daran finden. Das betrifft übrigens nicht nur Großeltern. Deren digitale Beweglichkeit ist, getrieben von der Sehnsucht nach den Enkeln, mitunter erstaunlich ausgeprägt. Nutzer jeden Alters, denen das geschriebene Wort noch nie viel bedeutet hat, denen Fingerfertigkeit, Sehkraft oder schlicht die Muße fehlen, mit kleinen Bildschirmen zu hantieren, lassen sich womöglich lieber auf eine Art Dialog mit Maschinen ein.
Hinzu kommt, dass der Blick aufs Gerät bei manchen Tätigkeiten schlicht gefährlich sein kann. Das betrifft vor allem das Navigieren im Straßenverkehr. Fast jeder hat schon diese vermeintlich lustigen Videos gesehen, bei denen Fußgänger, den Blick gen Smartphone gesenkt, gegen Laternenpfähle donnern oder in Tümpel stolpern. Allerdings zeigt auch die Kurve tödlicher Autounfälle nach Jahrzehnten des Absinkens wieder nach oben. Ablenkung durchs Handy gilt als ein gewichtiger Grund dafür.
„Spracherkennung lässt die Technik in den Hintergrund treten, ja unsichtbar werden“, sagt Nic Newman, Tech-Forscher und Autor der Studie „The Future of Voice and the Implications for News“des Reuters Institutes for the Study of Journalism. Das werde den Umgang mit dem Internet spielerischer machen und viele neue Angebote hervorbringen.
Die schlauen Geräte lenken nicht so ab wie ständig blinkende Screens, sie bleiben stumm und unaufdringlich, solange man nichts von ihnen will. Sie machen deshalb vermutlich auch weniger süchtig als Smartphones, wenn man denn in diesem Zusammenhang von Suchtverhalten sprechen kann. Mal schnell nachschauen, ob es nicht doch irgendetwas Neues gibt, diesen Reflex sollten sie jedenfalls weniger auslösen als ein Gerät, das mit visuellen Reizen arbeitet. „Wir verbringen alle viel zu viel Zeit mit Bildschirmen. Unsere Augen und Gehirne sind müde, wir sind von kleinen rechteckigen Geräten abhängig geworden“, sagt Newman, „Spracherkennung wird uns davon befreien und dem Menschen die Kontrolle zurückgeben.“
Aber Experten wie Newman halten die Technik nicht nur deshalb für transformativ. Insbesondere Menschen, die motorisch eingeschränkt sind, könnten massiv von ihr profitieren. Der britische Landkreis Hampshire testet gerade in einem Pilotprojekt, in welchem Ausmaß smarte Hör-Geraete und ihre Chatbots Behinderten und Betreuungsbedürftigen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen können, um sie zum Beispiel an Medikamente zu erinnern, Hausgeräte zu steuern oder im Notfall Botschaften weiterzuleiten – nicht, um Pflegepersonal zu ersetzen, sondern Hausbesuche zu ergänzen, wie das zuständige Amt versichert.
Generell senkt die Technik die Hemmschwelle für Bürger, sich an ihre Gemeinde oder andere öffentliche Stellen zu wenden. Es kostet die meisten Menschen weniger Überwindung, mal eben in ein Gerät zu sprechen, um etwas zu fragen oder zu melden, anstatt sich zu dem zuständigen, womöglich schlecht gelaunten Sachbearbeiter durchzufragen oder ein Formular auszufüllen. Wenn es denn funktioniert.
Die Chancen dafür stehen recht gut. Der technische Fortschritt auf dem Feld ist gewaltig, die Software der Geräte wird dank der ständigen Fütterung mit Daten immer besser. Vor allem im Handel ist ein Wettlauf im Gange, um den Kunden mit Sprach-Dienstleistungen abzuholen, wie es so schön heißt, und das hoffentlich schneller als die Konkurrenz. Der Marktforscher Gartner prognostiziert, dass die Firmen, die früh in Voice Technologie investieren, ihren Einzelhandels-Umsatz um 30 Prozent steigern können. 2021 dürfte jede zweite Firma mehr in Bots und Chatbots investieren als in Apps.
Allerdings, und jetzt kommen die Warnhinweise, gibt es auch ein paar Risiken. Das bekannteste betrifft den Datenschutz. „Smart talking: are our devices threatening our privacy“, überschreibt der britische Guardianeinen Text von James Vlahos, und man möchte rufen: „Ja was denn sonst?“ Dass die Smart Speaker das Smartphone in seinen Spionage-Fähigkeiten noch um einiges übertreffen, ist mehr als offensichtlich. Denn weil sie passiv im Hintergrund „lauern“, vergisst man gerne, dass es sie gibt. Ausschalten geht zwar, aber es beraubt sie ihrer Funktion.
Vlahos‘ Stück ist ein Vorabdruck aus seinem Buch, dessen Titel „Talk to Me: Apple, Google, Amazon and the Race for Voice-Controlled AI“ (Random House Penguin, 2019) auf einen Blick klar macht, wer diese neuen Zufahrtsstraßen zum Internet kontrolliert. Zwar beteuern die genannten Konzerne auf allerlei Weise, wie sie die Privatsphäre ihrer Kunden zu schützen gedenken, aber dennoch ergeben sich einige ethische und juristische Probleme aus der rasant wachsenden Anwendung der Geräte. So zitiert Vlahos einen Jura-Professor der Fordham Law School in New York, Joel Reidenberg, der sagt: „Wenn Sie ein Gerät installiert haben, das zuhört und Daten an Dritte überträgt, haben Sie Ihr Recht auf Privatsphäre verwirkt.“ So schnell kann es dahingehen mit den Bürgerrechten.
Und wer ist dafür verantwortlich, eventuell Hilfe zu alarmieren, wenn zum Beispiel ein Kind seiner mit einem Sprachempfänger ausgestatteten Barbie-Puppe anvertraut, jemand habe es seltsam angefasst? Man kann gewiss sein, dass sich bereits jetzt reihenweise Anwälte mit dem Thema beschäftigen. Wie man weiß, übernehmen die großen Datenkonzerne ungerne Verantwortung für das, was sie auslösen, wenn die Folgen denn negativ sind. Ganz abgesehen davon, dass die Gefahr des Hackens mit der Zahl der Gegenstände wächst, die kontinuierlich Daten zum Nutzerverhalten übermitteln, ob das nun die Mikrowelle, die Heizung oder das Auto ist.
Allerdings gibt es noch ein paar weniger offensichtliche Fragezeichen zur Voice Technologie als die Sorge um die Privatsphäre. Denn einerseits ist es natürlich wunderbar, wenn Dinge einfacher werden. Andererseits könnte es auch dazu führen, dass wir bestimmte Hirnregionen nicht mehr trainieren, wenn wir uns nur noch in den Wunsch- und Erwartungsmodus begeben. Schon heute werden ohne Google Maps selbst diejenigen unter uns schnell orientierungslos, die jahrzehntelang problemlos mit Hilfe von Stadtplänen und Landkarten ihren Weg gefunden haben. Bestimmte kognitive Kompetenzen bilden sich offenbar schnell zurück. Und das könnte auch für das Lesen und Verstehen von Texten gelten. Nicholas Carr hatte sich über diesen Effekt in seinem Buch „The Shallows – What the internet is doing to our brains“ (W. W. Norton, 2011) schon lange vor dem Siegeszug der Spracherkennung ein paar Gedanken gemacht.
Die Vermutung liegt nahe: Wer sich regelmäßig von Alexa oder Google Home den Nachrichten-Überblick vorlesen lässt – der natürlich je nach Auswahl von der BBC, der Tagesschau oder anderen Redaktionen stammt – mag sich womöglich nicht mehr mit ausführlicherer Lektüre zum Tagesgeschehen beschäftigen. Zwar haben Radio und Fernsehen diesen Effekt auch schon geliefert, aber der smarte Lautsprecher lässt sich wie das Smartphone für so viele Funktionen nutzen, dass die Information nur eine davon ist. Laut Newmans Studie interessieren sich zwar eine ganze Menge Voice-Nutzer für die Nachrichten, aber nur ein Prozent von ihnen findet dieses Angebot auch wichtig. Der weit überwiegende Teil der Konsumenten nutzt die Geräte bislang vor allem fürs Musikhören auf Kommando.
Ein Trend dürfte sich verstärken: Vieles im Netz befeuert unsere Bequemlichkeit und unsere Ungeduld gleichermaßen, alles muss schnell und ohne viel Mühe in unsere Nähe gelangen. Das offensichtlichste Zeugnis davon sind vermutlich die Fahrradboten von Lebensmittel-Bring-Diensten, die sich in vielen Städten so schnell vermehren, wie man es von den dazu passenden Radwegen gerne hätte. Der Weg vom Hunger zum Essen führt immer seltener über den Supermarkt und die Küche zum Teller, mundgerechte Lieferung wird zum Standard und das durchaus auch im übertragenen Sinne.
Absehbar ist zudem, dass sich die Macht im Internet weiter auf wenige große Plattform-Konzerne konzentriert. Eine Google-Suche am Bildschirm fördert zuweilen Tausende, sogar Millionen Treffer zutage, selbst wenn sich die Wenigsten die Mühe machen, auf die vierte Seite der Suchergebnisse zu gehen. Das Voice-Gerät hingegen lässt exakt eine Antwort zu, wenn man keine weitere anfordert. Scott Galloway, Professor der New York University, hat deshalb schon prognostiziert, dass Spracherkennung der Tod des Markenartikels sein könnte. Der Kunde werde vermutlich eher Produktkategorien ordern („Ich brauche Zahnpasta“) als Markenartikel, der dahinterliegende Händler könne dann seine Lieferanten entsprechend preislich unter Druck setzen. Das Ergebnis ist ein Verdrängungswettbewerb, der sich zugunsten der ohnehin schon Starken entscheiden dürfte, doch die werden in Maßen profitieren. Denn der Kunde wird Markennamen im akustischen Raum kaum noch wahrnehmen.
Eine große Herausforderung dürfte die Sprache selbst sein. Im englischsprachigen Raum mag die Spracherkennungs-Technik als rundum positiv gesehen werden, dort setzt sie sich rasant durch. In den USA und Großbritannien nutzt schon mindestens jeder Zehnte einen Smart Speaker, immerhin sind die Geräte derzeit schon für 21 Sprachen in 36 Ländern erhältlich. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis auch der letzte Dialekt verstanden wird. Außerdem haben die Lautsprecher noch Schwierigkeiten damit, Stimmen zuzuordnen oder Wünsche im Zusammenhang zu begreifen. (Wer daheim Alex oder gar Alexa gerufen wird, stiftet vermutlich besonders viel elektronische Verwirrung.)
Ob die Boxen ihre Nutzer wirklich verstehen, hängt stark davon ab, wieviel sich diese mit ihnen abgeben. Denn die Technik lernt umso besser, je mehr Daten sie verarbeiten kann. Ob sie den Menschen allerdings jemals in der ganzen Komplexität seiner Kommunikation „begreifen“ wird, lässt sich getrost bezweifeln. Zu der gehört schließlich viel mehr als nur die Sprache. Manchmal verstehen wir uns schließlich nicht einmal selbst.
Dieser Text erschien in leicht veränderter Form in „ada – Heute das Morgen verstehen“, Ausgabe 02/2019