Gründen statt grummeln: Die Zeit für journalistische Wagnisse ist gekommen

Als die beiden preisgekrönten Investigativ-Journalisten Bastian Obermayer und Frederik Obermaier die Süddeutsche Zeitung im April 2022 Richtung Spiegel verließen, klang das zunächst wie die alte Geschichte vom Edelfedern-Karussell. Da hatte man sich mal wieder ein paar Top-Talente weggekauft – was zwischen den großen deutschen Medienmarken eine gewisse Tradition hat. In diesem Fall lief es jedoch anders. 

Der Spiegel holte nicht Obermayer und Obermaier an Bord, sondern anders herum. Das Nachrichtenmagazin wurde Partner eigenen, journalistischen Start-ups. Papertrail Media heißt die neue Firma, mit der sich Obermayer und Obermaier darauf spezialisieren, was sie am besten können: investigativen Journalismus von Weltklasse.

Die Nachricht hatte einen gewissen Wow-Effekt, nicht nur wegen der prominenten Namen. Denn hier zeichnet sich ein Zukunftsmodell für engagierte Journalistinnen und Journalisten ab, die noch einmal etwas wagen wollen – und zwar nicht als Einzelkämpfer auf Plattformen wie Substack, sondern im Team mit starken Medienpartnern. 

In der Fernseh-Branche ist schon lange gang und gäbe, dass Moderatoren und Talkshow-Hosts ihre eigenen Firmen gründen, nicht zuletzt wegen der eingeschränkten Gehaltsmöglichkeiten in den öffentlich-rechtlichen Strukturen. Im digitalen Journalismus dagegen ist noch kein wirkliches Gründungsfieber ausgebrochen. Abgesehen von Gabor Steingarts Media Pioneer, das mit Axel Springer einen finanzstarken Anteilseigner hat, und dem gemeinnützigen Newsroom Correctiv machen junge journalistische Portale made in Germany eher selten größere Schlagzeilen. Viele bedienen Nischen oder ein Fachpublikum. Etliche stehen finanziell auf allzu weichem Grund. 

Das liegt nicht allein am fehlenden Entrepreneur-Geist der Journalisten, die sich häufig lieber allein als Autoren profilieren, anstatt sich mit kompetenten Business-Partnern zu verbünden. Auch die Rahmenbedingungen sind schlechter als anderswo. Es gibt keine systematische Förderung von Mediengründern wie zum Beispiel in Österreich. Der gemeinnützige Journalismus wurde bislang nur punktuell unterstützt. Und, auch das spielt eine Rolle, der Leidensdruck ist geringer als an manch anderem Ort. Deutschland verfügt über eine noch recht gesunde Branche mit vielfältigen, unabhängigen Medien. In repressiv regierten Ländern, in denen die meisten traditionellen Marken mindestens staatsnah sind, finden Neugründungen dagegen eher Unterstützer mit Informationshunger als in gesättigten Märkten mit guten öffentlich-rechtlichen Angeboten. Die Medienwissenschaftler Christopher Buschow und Christian-Mathias Wellbrock hatten 2020 in einem Gutachten für die Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen ausführlich und klug dargelegt, woran es der Innovationslandschaft in Deutschland besonders mangelt. 

Deshalb ist die Zeit für Gründerfieber gekommen

Dennoch gibt es Gründe dafür, warum sich einige gerade jetzt an das eigene Start-up heranwagen – und warum das ein guter Zeitpunkt ist.

► Zunächst einmal hat sich gesellschaftlich etwas bewegt. Die Ansprüche an Freiheit und Gestaltungsmacht sind in dem Maße größer geworden, wie die Spielräume der Verlage schrumpfen. Nicht zuletzt die Pandemie hat viele darüber nachdenken lassen, wie viel Energie sie noch bereit sind, in traditionelle Arbeitsstrukturen zu investieren – Präsenz-Vorgaben, Status-Gerangel, Dienstplan-Korsett und zeitfressende Pendelei inbegriffen. 

► Vielen in etablierten Organisationen geht der digitale Wandel zudem nicht schnell genug. Sie sehen, wo sich die Branche hin bewegt, und sie wollen dabei sein. Andere pflegen ein gefragtes Fachgebiet, bekommen dafür aber nicht ausreichend Wertschätzung oder Unterstützung in ihren Redaktionen. Und wieder andere sind in ihren Mittvierzigern oder älter und wollen noch einmal etwas Neues wagen, bevor sie auf die Liste derer geraten, denen man mit Abfindungsangeboten nahelegt, doch nun endlich Platz für die „jungen Digitalen“ zu machen. Was die Verlage aufrütteln sollte: Die meisten derjenigen, die aus all diesen Gründen vor dem Absprung aus der sicheren Festanstellung stehen, sind überdurchschnittlich motiviert, talentiert und vernetzt.

► Diese Talente treffen auf eine sich ständig erweiternde Förderlandschaft. Staatliche oder auch aus der freien Wirtschaft (oft von den Tech-Plattformen) organisierte Initiativen und Fonds unterstützen Start-ups oder Gründungswillige auf dem Weg dorthin. Wer sich bislang wegen Berührungsängsten mit Business-Plänen, Nutzerforschung und Marketing-Strategien nicht gewagt hat, das Gründen anzugehen, kann seine Idee in solchen Programmen testen und verfeinern, sich schnell nötige Kenntnisse aneignen und sich mit hochkarätigen Experten vernetzen. Laut erklärter Absicht der Regierungskoalition soll zudem das Gründen im gemeinnützigen Journalismus einfacher werden.  

► Zugute kommt der jüngeren Generation, dass in vielen Häusern notgedrungen die einst eherne Grenze zwischen Redaktion und Verlag gefallen ist. Waren Journalisten früher fast stolz darauf, keine Ahnung davon zu haben, wie das Geld verdient wurde, kommen heute nur noch wenige mit dieser Mentalität durch. Man arbeitet nicht nur notgedrungen mit den Leuten aus Marketing und IT zusammen,, sondern hat sogar Spaß daran, gemeinsam attraktive Produkte zu entwickeln. Das macht so manch einem Mut, gemeinsam mit kompetenten Gleichgesinnten den Sprung zu wagen. 

Die Gründerinnen und Gründer bewegen sich also. Aber was ist mit den Verlagen?

Da werden Gründer bislang selten als potenzielle Partner wahrgenommen, Intrapreneurship – also das Gründen innerhalb der eigenen Reihen – wird kaum gefördert. Dabei ließe sich so leicht testen, wie effektiv kleine cross-funktionale Teams – mancherorts heißen sie Squads, anderswo Mini-Publisher – eine Art verlegerische Verantwortung für Nutzergruppen oder Produkte übernehmen. Engagierte Kolleginnen und Kollegen können hier unter dem schützenden Dach der großen Marke agil ausprobieren, was am Markt funktioniert und möglich ist. So manch eine Neugründung mag daraus entstehen.

Schwindende Ressourcen zwingen vermutlich auch die großen Häuser irgendwann zum Umdenken. Kann man sich wirklich noch eine Vollredaktion leisten, die jegliches Publikumsinteresse bedient? Oder ist es bei bestimmten Themen, die viel Expertise verlangen, nicht sinnvoller, kleine, schnelle und engagierte Einheiten partnerschaftlich zu fördern? Der Investigativ-Journalismus könnte ein solches Gebiet sein, aber auch für den Klimajournalismus oder eine publikumsnahe Lokalkompetenz wären solche Modelle denkbar. Die Zukunft des Journalismus wird kollaborativ sein. 

So manch ein Gründer, der mit dem Schritt in die Freiheit auch redaktionellen Zwängen und Hierarchien entkommen wollte, wird feststellen, dass er oder sie unter dem Strich noch mehr arbeitet als zuvor. Kunden und Geldgeber haben Ansprüche und das rund um die Uhr. Erstaunlicherweise hört man kaum jemanden darüber klagen. Auf ein selbstgewähltes Ziel hinarbeiten zu dürfen, fühlt sich für viele nach mehr Freiheit an, als sechs Wochen bezahlter Urlaub im Jahr.  

Diese Kolumne erschien zuerst am 20. April 2022 bei Medieninsider. Alexandra schreibt dort jeden Monat zu aktuellen Themen der Branche.  

Fördert die Ausbildung! Wie der Staat den unabhängigen Journalismus wirklich stützen könnte

Über so ein Geschenk kann sich nicht jede Branche freuen. 220 Millionen Euro hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr locker gemacht, um deutschen Medienunternehmen zu helfen, angeblich bei der „digitalen Transformation“. In Fach- und Verlagskreisen streitet man sich seitdem trefflich darüber, was mit dem Geld passieren soll. Lobbyisten-Werk, schimpfen die einen, das Ganze werde versickern wie Kohle-Subventionen, nichts als lebensverlängernde Maßnahmen für besonders bräsige Verlagshäuser. Innovative Gründer und andere, die sich für den Journalismus einsetzen, gingen dagegen leer aus. Experten wie der Medienwissenschaftler Christopher Buschow aus Weimar denken so oder ähnlich, zusammen mit Christian-Mathias Wellbrock hat er ein viel beachtetes Gutachten zur Innovationsförderung im deutschen Journalismus für die Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen veröffentlicht und ist seitdem auf allen Kanälen zum Thema präsent. Die anderen sind natürlich die Verlage selbst. Nach deutlich zweistelligen Einbrüchen im Anzeigengeschäft ringen viele um ihre Existenz. Sie argumentieren staatstragend mit ihrer Rolle als Säule der Demokratie, damit untertreiben sie nicht. Kassenwart ist das Bundeswirtschaftsministerium, demnächst soll es ein Konzept geben.

Die Erwartungen daran sind niedrig, denn bislang regiert das Prinzip Gießkanne, und schon die Grundfrage ist ungeklärt: Wie fördert man das eigentlich, die „digitale Transformation“? Geht es um neue Technik, um Organisation, oder doch nur um die Abfederung von Härten in einer Verlagsbranche, die seit ungefähr 15 Jahren mit sinkenden Druckauflagen und Anzeigenerlösen kämpft und bei der Begeisterung des Publikums für digitalen Journalismus viel zu langsam in die Puschen gekommen ist? Eine Antwort wäre: Man beginnt bei den Menschen, die in der Branche arbeiten. Für die Zukunft der Medienbranche sind Investitionen in Aus- und Weiterbildung kritisch. Denn im Journalismus zeichnet sich ein gigantisches Personalproblem ab.

In der Welt draußen ist das noch wenig bekannt. Die politische Diskussion wird schließlich von den großen Medienmarken beherrscht, zu denen nach wie vor ausreichend qualifizierte Bewerber*innen drängen. Redet man mit Vertreter*innen von Regionalverlagen, sieht die Sache anders aus. „Das Geschäftsmodell Zeitungen wird nicht von der Auflage zuerst zusammenbrechen, sondern vom Personal“, sagte kürzlich ein im Digitalen recht umtriebiger Chefredakteur einer süddeutschen Lokalzeitung. Die Zahl der Bewerbungen nehme rasant ab, die Qualität der Bewerber*innen ebenso. Das gilt für Journalist*innen, die sich in der leidenden Branche wenige Perspektiven ausrechnen und jene jungen Leute, die mit dem Beruf gar nichts mehr anfangen können. Noch viel mehr gilt es aber für junge Leute mit IT-Kompetenz. Die gehen lieber gleich zu Originalen wie Facebook, Google oder Spotify, wo die Gehälter höher, die Work-Life-Balance besser und die Kultur cooler sind. In der Studie „Are Journalists Today’s Coal Miners?“ hat eine Forscher*innen-Gruppe aus Oxford und Mainz das Thema 2019 ausführlich beleuchtet (die Autorin dieser Kolumne war Teil des Teams).

Aber nicht nur mit der Rekrutierung von Berufseinsteigern haben die Verlage ein Problem. In den Redaktionen und Verlagsabteilungen gibt es eine große Unwucht zwischen dem, was die Mitarbeiter*innen können und dem, was sie können müssten. Das zieht sich hinauf bis in Chefredaktionen und Verlagsleitungen. Die Redaktionen sind gut gefüllt mit Reporter*innen und Redakteur*innen, die zwar brillant oder zumindest versiert im Recherchieren, Schreiben und Redigieren sind, sich aber mit digitalen Erzählformaten, Produktentwicklung und Kundennähe kaum auskennen, ganz zu schweigen von Veränderungsmanagement. Schlimmer, aus den Journalistenschulen kommen in großer Zahl junge Leute nach, die sich dafür ebenso wenig interessieren und am liebsten nur große Reportagen schreiben wollen.

Jetzt rächt sich außerdem, dass man in der Branche jahrzehntelang Menschen wegen ihrer journalistischen Kompetenz in Leitungspositionen befördert hat, nicht jedoch wegen ihrer Management-Qualitäten – und dass sie damit oft heillos überfordert sind. Gerade die talentierteren unter ihnen spüren das. Gerne würden sie sich entsprechend weiterbilden, aber dafür ist das Geld nicht da. Viele landen im Burnout oder verlassen die Branche für Jobs, in denen es auch mal Wachstum zu feiern, statt Krise zu verwalten gibt. Die anderen ducken sich weg und hoffen, dass das bis zur Rente oder zumindest dem nächsten Abfindungsprogramm niemandem auffällt. Energie und Kompetenzen verkümmern, weil sie niemand abholt zur Reise in die digitale journalistische Zukunft.

Hinzu kommt ein erbitterter Konkurrenzkampf in der Branche, der zwar am Kiosk seine Berechtigung hatte aber längst nach hinten losgeht, weil die wahren Wettbewerber im Silicon Valley sitzen oder dort, wo man dessen Rezepte kopiert. Die Verlage haben es versäumt voneinander zu lernen, Kompetenzen zu bündeln und Innovationen selbst zu entwickeln, von denen die Branche und damit auch der Journalismus profitieren könnte. Kooperationen entwickeln sich nur langsam, ein Beispiel ist Drive, das gemeinsame Daten-Projekt verschiedener Regionalzeitungen und der dpa.

Was könnte man alles erreichen, würde man nur einen Teil der 220 Millionen Euro in die Ausbildung junger Journalist*innen stecken, die verschiedenste Perspektiven und Fähigkeiten in die Verlage tragen könnten? Welches Potenzial ließe sich erschließen, würde man gestandene Redaktions- und Verlagskolleg*innen für die digitale Transformation fit machen? Flächendeckende Trainings in Veränderungsmanagement, Kundenorientierung und Leadership sind Investitionen, die der Branche langfristig mehr nutzen als das nächste neue Redaktionssystem. Bevor man sich für Technik entscheidet, muss man schließlich wissen, was man damit machen will. Strategien aber können nur Menschen entwickeln.

Tragisch besonders in Deutschland ist, dass man all diese Aufgaben weitgehend Google und Facebook überlässt, die großzügig Bildungsprogramme für Verlage finanzieren (Transparenz: Das Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School, in dessen Rahmen diese Kolumne entsteht, wird von Facebook unterstützt, die Autorin ist zudem in Programmen engagiert, die von der Google News Initiative gefördert werden). Damit machen sich die Medienhäuser noch abhängiger von den Plattform-Konzernen, die ohnehin schon viel zu häufig definieren, was bitte Innovation zu sein hat. Die Ironie dabei: Geißeln Kommentator*innen im Leitartikel gerne die Übermacht der Tech-Monopole, wird deren Geld intern nur zu gerne angenommen – weil es keine Alternative gibt.

Dabei wäre staatliches Geld für Journalismus in der Bildung am besten investiert. Hier bliebe die journalistische Unabhängigkeit gewahrt, gleichzeitig würde man nachhaltig in die Zukunft investieren. Als Vorbild könnte man die Diskussion in der Entwicklungshilfe nehmen, die heute aus gutem Grund Entwicklungszusammenarbeit heißt. Geld ausschütten per Gießkanne ist das Rezept von gestern. Strukturen aufbauen und Hilfe zur Selbsthilfe anstoßen, darauf kommt es an.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 26. Februar 2021.