Die Versuchung, diesen Text mit Claas Relotius zu beginnen, ist groß. Der als Reporter getarnte Geschichtenerfinder hatte etliche Journalistenpreise abgeräumt, bevor seine Lügen 2018 aufflogen. Dies hatte nicht nur seinen Arbeitgeber Der Spiegel einiges an Energie und Ansehen gekostet, sondern die Scheinwerfer direkt auf die Belohnungssysteme der Branche gelenkt. Ist schön auch immer gut, fragte man sich damals? Erfahrene Juror:innen hatten sich blenden lassen, weil sie auf starkes Erzählen schauten. Sie bewerteten Sprache und Dramaturgie höher als Plausibilität. Das war peinlich, aber offenbar nicht peinlich genug. Schnell ging man zur Tagesordnung über. Die Sache war ja aufgeklärt.
Nun muss man wegen eines Skandals nicht alle Journalistenpreise in Frage stellen. Tausende Reporter:innen verdienen ihre Auszeichnungen, weil sie hartnäckig und unter großem Einsatz recherchieren, akribisch an Text, Ton- oder Bildschnitt arbeiten, begeisternde und bewegende Geschichten abliefern. Man darf annehmen, dass sich nur sehr wenige mit Lügen durchs Berufsleben schummeln. Viele Journalistenjobs sind mäßig bezahlt, man gönnt jedem und jeder Einzelnen ein paar Euro extra. Und doch kann man – ja, muss man – ab und an fragen, ob die in einer Branche herrschenden Anreizsysteme das bewirken, was sie erreichen sollten.
Was guten Journalismus auszeichnet
Moderner Journalismus denkt vom Nutzer her, heißt es. Er hört Menschen zu, begegnet ihnen mit Respekt, spricht sie in ihrer Sprache an. So betrachtet, definiert sich erfolgreicher Journalismus also auch über seine Wirkung beim Publikum. Und da fängt die Schwierigkeit an. Denn viele Preise – wenn sie nicht ohnehin kommerziellen Logiken folgen – reflektieren eher das, was Journalist:innen unter starkem Journalismus verstehen.
Seitdem Datenanalysen Nutzungsgewohnheiten bis ins Detail offenlegen können, zweifeln einige Praktiker:innen jedoch zunehmend an dieser Definition von Qualität. Da ist zum Beispiel Ritu Kapur, Gründerin und Chefin des indischen Nachrichtenportals The Quint. In einem Gespräch zum Thema Klimajournalismus merkte sie kürzlich an, dass diejenigen Formate, auf die ihre Redaktion besonders stolz sei, oft auf wenig Resonanz stießen. Liebevoll gebaute, preiswürdige Multimedia-Geschichten aus fernen Landesteilen floppten beim Publikum. Dagegen würden weniger aufwändige, dafür aber alltagsnahe Stücke reichlich geteilt und kommentiert.
Ähnlich erlebt das Adrian Monck. Der ehemalige Journalist und Journalismus-Professor leitet die Kommunikation beim World Economic Forum und damit auch eine Redaktion, die auf verschiedenen Social-Media-Kanälen einen bemerkenswert konstruktiven Ansatz betreibt. In kurzen Kacheln oder Videos werden Lösungen präsentiert, mit denen Menschen und Organisationen aus aller Welt drängende Umweltprobleme angehen. Mangels Etats würden die Beiträge hocheffizient produziert; nichts davon sei das, was Monck „Faberge Egg Journalism“ nennt, also kunstvoll erstellte Einzelstücke. Und doch seien die Zugriffe enorm. Vor allem junge, bildungsaffine Menschen aus aller Welt begeisterten sich für die simplen Beispiele dessen, was möglich sei. In einem normalen Medienhaus, wo Karrieren und Identitäten entlang von preiswürdigem Journalismus entstünden, hätte sich so ein Angebot nie etablieren können, sagt Monck. Läuft da also etwas Grundlegendes falsch?
Was die Branche macht, ist eine Sache. Das können Preise sein, bei denen man sich selbst feiert oder Listen, in denen Fachmagazine die Kolleg:innen des Jahres krönen – was beiden Seiten Aufmerksamkeit verschafft und sich auf diese Weise in Euro auszahlen kann. Für die einen ist es ein Geschäftsmodell, für die anderen ein Marketingmittel. Wichtiger ist aber, wie Medienhäuser intern Lob und Wertschätzung verteilen. Denn daraus entsteht die Zukunft des Journalismus. Und die wird man wohl eher in dem vom BBC-Journalisten Ros Atkins entwickelten Explainer Format finden als bei Snowfall, dem einst in der Branche weithin bewunderten Multimedia-Projekt der New York Times, das nur einen Schönheitsfehler hatte: Die Nutzer ließ es einigermaßen kalt.
Eine Checkliste für Wertschätzung
Deshalb ist es wichtig, dass Verlage und Redaktionen ihre internen Anreizsysteme regelmäßig auf ihre Wirkung hin überprüfen. Dabei geht es um Beförderungen und Prämien ebenso wie um simples Lob in offener Runde, das bekanntermaßen den Ton setzt und in die eine oder andere Richtung motivieren kann.
Das wichtigste Signal ist: Wer macht Karriere? Die Kolleg:innen werden genau beobachten, ob der recherchestarke Politikreporter, die Wissenschaftsjournalistin mit Spezialgebiet Klima, der kreative Produktmanager oder die versierte Strategin in die Chefetage aufsteigen. All das gibt Hinweise darauf: Habe ich mit meinem Produkt, meinen Talenten, meinem Spezialgebiet Chancen, gesehen und gehört zu werden?
Eine kleine Checkliste kann abklopfen, ob die Redaktion in Sachen Wertschätzung auf einem guten Weg ist:
► Wird Nutzungsintensität ausgewertet und anerkannt? Immerhin kann Journalismus noch so beeindruckend sein – er wird wenig Wirkung erzielen, wenn ihn niemand bemerkt.
► Werden immer wieder dieselben Kolleg:innen oder Leistungen gelobt? Das sagt zuweilen mehr über Vorlieben von Chefredakteur:innen aus als über die Verteilung tatsächlicher Qualität.
► Man kann auch überlegen: Wer oder welche Gruppe wird nie gelobt? Gibt es nie einen Anlass, ein Team oder eine Leistung zu würdigen, besteht Handlungsbedarf. Womöglich passen Mitarbeiter:innen und Aufgabe nicht zusammen oder die Aufgabe selbst hat sich überlebt.
► Wichtig ist auch: Werden Experimente gelobt, auch wenn sie nicht das erhoffte Ergebnis gebracht haben? Wer Kolleg:innen dazu ermutigt, Dinge auszuprobieren, wird schneller Erfolge ernten als diejenigen, die sich an Vertrautes klammern.
► Und schließlich: Ist Anerkennung inklusiv und schließt alle an Projekten Beteiligten ein, oder reicht das Lob nur für ein paar Stars? So manch eine Geschichte wird erst durch die Verkaufe stark oder dadurch, dass sie jemand im richtigen Moment aus den Archiven zieht.
► Mitdenken und Kundenorientierung verdienen ebenso Belohnung wie intensive Recherche und sprachliche Meisterschaft. Jeder, der sich um redaktionelle Qualität bemüht, wird diesen Fragenkatalog mühelos ergänzen können.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Unternehmen müssen nicht zu Lob-Maschinen werden, auch Redaktionen nicht. Die meisten Journalist:innen arbeiten aus eigenem Antrieb, weil sie etwas bewirken möchten: informieren, erklären, aufklären, unterhalten. Die wenigsten erwarten dafür Preise. Aber Lob ist ein Stoff, aus dem Unternehmenskultur gemacht wird. Führungskräfte, die dies ignorieren, geben ein kraftvolles Werkzeug aus der Hand. Wer spürt, dass seine Arbeit gesehen wird, wird sich auch künftig ins Zeug legen. Wenn dann noch ein Preis dazukommt, ist das umso schöner.
Diese Kolumne erschien unter anderem Titel bei Medieninsider am 6. Dezember 2022.