Früher hatte ein Chefredakteur definitiv die Lacher auf seiner Seite, wenn er öffentlich über „Käi Pi Eis“ witzelte. So ein Zeug wie Key Performance Indicators (KPIs), also Kennzahlen, die Leistung mess- und vergleichbar machen sollen, war definitiv etwas für die von der anderen Seite. Gemeint waren damit die Typen aus dem Verlag oder aus anderen Branchen und Unternehmen, wo man Management lernen musste und nicht einfach nur so managte. Mochten sich Journalisten an manchen Tagen wie Handwerker fühlen, nur dass sie elektronische Flächen mit Zeilen füllten statt Ziegel zu schichten, in dem Punkt waren sie ganz Künstler: Der Wert ihrer Werke lasse sich keinesfalls in Excel-Tabellen abbilden, fanden sie.
Ein paar Lacher würden Redaktionsleiter mit dem KPI-Gag heute vermutlich immer noch kassieren, aber den meisten ist das Witzeln vergangen. Stattdessen überlegen sie, wie sie ihre Journalisten behutsam dafür erwärmen können, die Wirksamkeit ihrer Arbeit mit Daten abzubilden. Denn nur so lassen sich knappe Ressourcen besser steuern. Welche Texte, Podcasts und Videos fesseln Kund*innen für wie lange, wie sieht der typische Leser*innen-Weg in den Wochen vor dem Abschluss eines Abos aus, mit welchen Inhalten hält man Abonnent*innen besonders bei Laune? Besser wär’s, man wüsste es.
Fakt ist, moderne Redaktionen erfreuen sich durchaus daran, Daten aller Arten zu erheben, zu analysieren und zu nutzen – nur dann nicht, wenn es um individuelle Leistungen und gar Ziele geht. Ist es in anderen Branchen selbstverständlich, Mitarbeiter*innen nach Output, Geschwindigkeit oder Verkäufen zu bewerten, haben Journalist*innen – zumindest in Deutschland – eher Schwierigkeiten damit. Journalismus könne man nicht auf diese Weise kategorisieren, argumentieren sie dann, und wissen damit Betriebsrat und Gewerkschaften auf ihrer Seite. Denn den meisten Arbeitnehmervertretern ist jegliche Art individueller Leistungskontrolle suspekt.
Einerseits haben sie zuweilen recht. Denn auch rund um redaktionelle Angebote gibt es eine Menge Daten, die wenig oder das Falsche aussagen, verwirren oder in die Irre leiten. Der Weg zu sinnvollen Kennzahlen ist oft lang und von Versuch und Irrtum geprägt. Andererseits spüren manche, dass sie mit ihrer Opposition falsch liegen, pflegen sie aber trotzdem – aus Eigeninteresse.
Dahinter steckt Angst, und auch die ist berechtigt. Früher konnte man noch die Reichweite des Mediums stolz vor sich hertragen, selbst wenn man ahnte, dass nicht jeder eigene Text ein Kracher war. „Die FAZ lesen vielleicht ein paar Hunderttausend, aber uns liest ganz Deutschland!“, belehrte der ältere dpa-Kollege die junge Kollegin, was damals aufmunternd gemeint war. Das ist ein Vierteljahrhundert her, das Selbstverständnis hat aber überlebt. Heute allerdings zeigen redaktionelle Analytics sehr individuell, ob tatsächlich ganz Deutschland liest, oder ob der scharf durchdachte Essay die Leser*innen komplett kalt lässt oder sie nach durchschnittlich zehn Zeilen rauswirft. Und offene Dashboards machen das im Zweifel auch für die Kolleg*innen transparent. Die Sorge ist groß, dass solche Angaben als Leistungsanalyse missbraucht und bei der nächsten Sparrunde gegen einzelne Reporter*innen und Redakteur*innen genutzt werden.
Wie gehen Führungskräfte mit diesem Dilemma um? Denn natürlich ist es wichtig, solche Daten zu erheben, um Mitarbeiter*innen sanft in die strategisch gewünschte Richtung oder entlang ihrer eigenen Stärken zu steuern. Schließlich kommt es darauf an, mit schrumpfenden Kapazitäten mehr zu erreichen. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Ein Stück, dass kaum jemand sieht, hört, liest, kann nichts bewegen, so gut es auch gemeint sein mag. Journalismus rechtfertigt sich über seine Wirkung, weniger denn je ist er reine Chronistenpflicht.
Gefragt sind also Metriken zum Mögen. Und da kommt es auf ein paar Dinge an. Zunächst einmal sollten es die richtigen sein. Zahlen, die nur die Eitelkeit befriedigen, weil sie in ein Chart gepackt hohes Wachstum suggerieren und sich deshalb bei der Präsentation im Führungskreis gut machen, werden zurecht keine Akzeptanz finden. Klicks und Seitenaufrufe zum Beispiel mögen zwar beeindruckend sein, sagen aber nichts darüber aus, ob Inhalte wirklich Kunden binden und am Ende Einnahmen generieren. Sie fördern höchstens die Art Journalismus, für die sich selbst außerhalb der Branche das Wort Clickbait durchgesetzt hat.
Außerdem müssen die Zahlen die Strategie abbilden. Wer auf digitale Abos abzielt, braucht andere Kennwerte als derjenige, dem Reichweite wichtig ist, wer viele Abo-Abschlüsse aber eine hohe Kündigerquote hat, muss wieder anderes messen. Gewöhnlich dauert es eine Weile, bis Redaktionen ihre „North Star“ Metrik gefunden haben, also ein meist aus mehreren Zahlen kombinierter Wert, der aussagt, ob man sich in die richtige Richtung bewegt. Erst wenn das gelungen ist, lohnt es sich, auch die Mitarbeiter*innen darauf einzuschwören.
Darüber hinaus müssen die Zahlen verständlich und einfach zu kommunizieren sein. Philipp Ostrop, Mitglied der Chefredaktion bei Lensing Media, berichtet von den Erfahrungen bei den Ruhr Nachrichten: „Wir haben am Anfang unserer Digital-Abo-Reise den Fehler gemacht, die Newsrooms auf den schönen neuen Dashboards mit zu vielen und zu wenig relevanten Daten und Metriken zu nerven. Das war zu kompliziert und vor allem nicht handlungsorientiert.“ Die Leitfrage müsse lauten: Wer benötige welche Zahlen, um davon abzuleiten, was nun zu tun sei.
Ideal ist ein einziger Wert, der aussagt, ob ein Text zum gewünschten Ziel beiträgt oder nicht. Das kann die Anzahl der Abonnenten sein, die ein Stück lesen, was ein Hinweis auf Loyalität und Kundenbindung ist. Bei Lensing sind es die Daily Active Subscribers. Andere Redaktionen kombinieren mehrere Metriken zu einem Wert. Wieder andere kommunizieren allein die Zahl der Digital-Abo-Abschlüsse. Allerdings setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass selten nur eine einzige Geschichte zum Griff nach der Kreditkarte motiviert. Einige Redaktionen, zum Beispiel schauen sich deshalb das Leseverhalten in den Wochen vor dem Abo-Abschluss an. Alle Texte, die in dieser Zeitspanne auftauchen, werden als wirksam eingestuft.
Hierzulande zögern die meisten Redaktionen noch, solche Messwerte zu nutzen, um damit Kolleg*innen zu bewerten oder ihnen Ziele zu setzen. Man hofft, dass sie aus eigenem Antrieb gut abschneiden wollen. In amerikanischen Newsrooms wird Leistung mit höherer Selbstverständlichkeit bewertet. Die Seattle Times hat dabei eine interessante Strategie entwickelt: Die Kolleg*innen treten im Wettbewerb gegen sich selbst an. Sie müssen ihren Vorjahreswert an wirksamen Texten – gemessen an der Nähe zu Abo-Abschlüssen – jeweils um 15 Prozent übertreffen. Auf diese Weise stehe Qualität im Zentrum, sagt der geschäftsführende Redakteur Danny Gawlowski. „Wenn ich die Opern-Kritikerin mit dem Kollegen vergleiche, der über Fußball schreibt, ist das Unsinn.“ Allerdings habe es ein paar Jahre und etliche Diskussionen inklusive Verwirrung gekostet, bis man sich auf die gegenwärtige Metrik verständigt habe – und natürlich suche man nach immer noch besseren Messmethoden.
Ganz wichtig dabei sind Transparenz und eine offene Diskussionskultur. So erlebt es zumindest der geschäftsführende Redakteur der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter, Caspar Opitz. Die meisten Kolleginnen und Kollegen fänden es gut, dass sie wüssten, wie ihre Geschichten abschnitten, sie wollten ja gelesen werden. Man nutze die Erkenntnisse aber vor allem, um daraus zu lernen, nicht für Sanktionen. „Mitarbeiter sollen sich sicher fühlen“, ist der Leitsatz von Dagens Nyheters Chefredakteur Peter Wolodarski. Er findet es wichtig, Arbeitnehmervertreter frühzeitig in alle Prozesse einzubinden. Der Journalistenberuf sei schon fordernd genug.
Mitarbeitern Sicherheit bieten, das ist Kern guter Führung. Das bedeutet aber nicht, das Team im wohlig-warmen Gefühl zu baden, dass alles so bleiben kann, wie es ist – denn das wird es nicht. In Zeiten rasanten Wandels heißt Sicherheit bieten vor allem, Mitarbeiter*innen auf dem Weg in die Ungewissheit zu begleiten. Zahlen und Ziele helfen dabei, Erwartungen klar zu formulieren, zu kommunizieren und wenn nötig gemeinsam anzupassen. Das ist zumindest ein Gerüst, an dem man sich entlanghangeln kann. Auch wenn es manchmal ins Schwanken gerät.
Dieser Text erschien zuerst am 29. Mai 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.