Wenn Journalist*innen kritisch über den Zustand des Journalismus schreiben, holen sie sprachlich gerne mal die große Keule raus. Über „Haltungsjournalismus“ wird dann gewettert, und dass die Meinungsfreiheit in Gefahr sei, weil sich Kolleg*innen in vielen Redaktionen gar nicht mehr trauen würden zu sagen oder gar zu schreiben, was sie wirklich denken. „Cancel Culture“ sei überall. Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hat seiner Zeitung kürzlich mit einem viel beachteten Text zum 75. Geburtstag gratuliert, der schon in der Überschrift von einer solchen Bedrohung sprach. Zwar ist das Stück in seinem Kern recht differenziert. In den sozialen Netzwerken applaudierten ihm allerdings besonders lautstark diejenigen, die sich in ihrer eigenen Position bestätigt sahen: Der Journalismus werde an „Political Correctness“ zugrunde gehen.
Als Beispiel für seine These hatte Lorenzo die New York Times (NYT) herangezogen, in deren Redaktion viele Beobachter*innen von außen ein Klima der Angst vermuten. Zum Beleg werden immer dieselben Fälle von Journalist*innen angeführt, die aus inhaltlichen Gründen das Haus verlassen mussten oder zumindest sanktioniert wurden. Nun müsste jede*r Chefredakteur*in wissen, dass es für Außenstehende fast unmöglich ist, interne Personalentscheidungen fachkundig zu beurteilen. Bei unfreundlichen Trennungen spielen meist Dinge eine Rolle, die sich keiner Twitter-Gemeinde erschließen. Fakt ist aber, dass in der New York Times tatsächlich ein ungutes Klima herrscht. Die Zeitung selbst hat dies jüngst unter Beteiligung des Top-Managements in einer großen Untersuchung zum Thema „Diversity and Inclusion“ zutage gefördert und veröffentlicht.
In einem Zeitraum von acht Monaten wurden 400 Kolleg*innen interviewt. Das Ergebnis ist ebenso niederschmetternd wie beachtlich. Niederschmetternd, weil es der Zeitung bislang offenbar nicht gelungen ist, ihren vielfältigen Journalist*innen eine Heimat zu sein, in der sie sich beachtet und wertgeschätzt fühlen. Das gilt insbesondere für Schwarze, Latinos und für Frauen mit asiatischen Wurzeln, die zuweilen den Eindruck haben, sie seien unsichtbar – regelmäßig würden sie mit falschen Namen angesprochen. Beachtlich, weil das Team um Herausgeber A.G. Sulzberger, CEO Meredith Kopit Levien und Chefredakteur Dean Baquet der Transformation der Unternehmenskultur nun zumindest qua Bekenntnis eine ebensolche Bedeutung beimisst wie dem Umbau zu „digital first“ und „subscription first“, der die NYT zu einem digitalen Medien-Weltstar gemacht hat. Ein entsprechender Aktionsplan hängt dran. Wer von dieser Seite des Atlantiks aus über ein „Klima der Angst“ bei der NYT philosophiert, sollte den Bericht zumindest lesen. Wer leidet, und wer ist nur beleidigt?
Eine wichtige Lehre aus der Untersuchung: Vielfalt alleine genügt nicht, sie muss gelebt werden. Vielfältige Perspektiven können nur Wert schaffen, wenn sie auch beachtet und geschätzt werden, der Fachbegriff dafür lautet „Inclusion“. Und die Techniken dafür müssen entwickelt werden. Steht die herrschende Kultur dagegen nicht infrage, kann Diversität auch destruktiv wirken. Denn wenn Menschen sehr unterschiedlicher Perspektiven und Herkunft in einer Organisation zusammensperrt werden, produziert das automatisch Reibung, sprich: Konflikte. Diese Reibung führt idealerweise zu Kreativität und guten Ideen. Aber sie fordert immer die bisherigen Macht- und Einflussverhältnisse heraus, konfrontiert Nutznießer*innen der geltenden Kultur mit ihren Privilegien und treibt sie deshalb häufig in Abwehrhaltung. Vielfalt bereichert eine Organisation also nur, wenn sie bewusst gemanagt wird. Das ist vielen zu anstrengend und einer der Gründe für den Frauenanteil „Zielgröße null“, wie sie viele deutsche Unternehmen nach dem regelmäßig erscheinenden Allbright-Bericht aufweisen.
Diversity und Inclusion gehören also zusammen wie Kaffee und Milch, wenn das Ziel ein Cappuccino ist. Möchte man im Bild bleiben, tut man sich in Deutschland allerdings schon mit dem Kaffee schwer. In hiesigen Regionalverlagen sind gerade einmal zehn Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt, von Kolleg*innen anderer Hautfarbe ganz zu schweigen. Etwa zeitgleich mit der New York Times hat die Organisation Pro Quote eine qualitative Untersuchung veröffentlicht, die einen ähnlichen Frust offenbart. Sie beschäftigt sich damit, wie Lokaljournalistinnen die Redaktionskulturen in ihren Häusern empfinden. Angenehm ist anders. Von einem „sich selbst stabilisierenden System“ leitender Männer ist die Rede, einem Chefredakteurs-Karussell, das Frauen keinen Einstieg gewährt, von mangelndem Zutrauen, nicht vorhandenen Chancen und Sexismus. Die Branche braucht keine Studie, um all das zu wissen, ein Blick auf die Zusammensetzung entsprechender Verbände genügt. Tatsächlich ist „Cancel Culture“ schon lange Realität in Redaktionen, nur traf sie bislang eher jene, die lieber geschwiegen haben, statt Aufrufe zu verbreiten. Leidensdruck ist immer dann geringer, wenn es um das Leiden der anderen geht.
Dem Journalismus schadet das. Moderner, digitaler Journalismus sollte die Kundenbedürfnisse so ins Zentrum stellen, wie Amazon oder Spotify das vormachen. Und Kund*innen sind nun einmal sehr unterschiedlich. In der Medienbranche gehört Vielfalt deshalb zum Kern der digitalen Transformation, und Vielfalt wirkt nur, wenn man ihr Potenzial ausschöpft. Bei der New York Times hat man das verstanden und sich auf eine anspruchsvolle, ganz sicher konfliktreiche Reise gemacht. Die Branche täte gut daran, dem großen Vorbild auch in diesem Fall nachzueifern.
Diese Kolumne erschien zuerst im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. März 2021.