Wenn die Corona-Pandemie eines zeigt, ist es das: Freiheit wirkt. Man mag geteilter Meinung darüber sein, ob das überall und für jeden gilt, oder ob man überhaupt noch von Freiheit reden kann, wenn unter der viralen Bedrohung die meisten Abweichungen von vernünftigen Verhaltensweisen mit Verboten belegt sind. Aber im Großen und Ganzen halten sich Menschen überwiegend auch dort mit erstaunlichem Gleichmut an die fast überall geltenden Kontaktverbotsregeln, wo sie nicht Gefahr laufen, mit Kontrolle und empfindlichen Strafen rechnen zu müssen.
Südkorea zum Beispiel gilt als ein Musterland beim Eindämmen der Seuche, verboten wurde dort wenig. Auch aus Schweden, wo die Regierung stark auf Appelle setzt, sind noch keine italienischen Bilder durchgedrungen, wenngleich die Sterberaten über denen der Nachbarländer liegen. Das Virus als unsichtbarer gemeinsamer Feind ist disziplinierender als vielerlei Staatsgewalt. Braucht man also wirklich sogenannte Tracing Apps, die jeden Bürger, jede Bürgerin auf Schritt und Tritt begleiten, um die Ausbreitung der Covid-19 Krankheit zu verlangsamen?
Nun gut, kommen werden sie ohnehin. Derzeit sind sie in der Designphase, die Debatte um die verschiedenen Systeme wird noch im Detail ausgefochten. Sie dreht sich vor allem darum, welche Privatsphäre-Standards eingebaut werden müssen. Auf der Zielgeraden ist für Deutschland nun eine dezentrale Lösung, bei der die Daten nicht auf einem zentralen Server gespeichert werden.
Tatsächlich wäre es fahrlässig, Versuche von vorneherein zu verdammen, die soziales und wirtschaftliches Leben wieder ermöglichen könnten, egal ob High- oder No-Tech. Und es sollte EU-Bürgern lieber sein, dass die EU-Kommission die Initiative ergreift, als wenn sich jeder zwangsläufig amerikanische Standard-Lösungen aufs Mobiltelefon lädt. Aber Skepsis und Nachdenken sind aus vielerlei Gründen angebracht.
Vernachlässigen Appnutzer Hygieneregeln?
Zunächst einmal: Technische Lösungen versprechen oft mehr, als sie halten können. Ihre Nutzer wiegen sich dann in falscher Sicherheit und neigen zu riskantem Verhalten. Manch ein Lawinenopfer zum Beispiel könnte noch leben, wäre es nach dem Blick auf den Schneebericht oder in den Himmel daheim geblieben, statt auf die neuesten Berg-Gadgets zu vertrauen. Im Falle von Seuchen, die jeden treffen können, wirken Sozialtechniken allemal effektiver als Technologie. Verhaltensregeln wie Händewaschen, Masken tragen oder physische Distanz zu anderen Menschen halten, sind simpel, leicht zu lernen und senken das Risiko. Apps können also maximal eine Ergänzung im Krisen-Milderungs-Baukasten sein, die nur dann sinnvoll sind, wenn sie mehr nützen als schaden.
Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete zweifeln genau daran. Entweder, die Apps seien nicht effektiv, dann brauche man sie nicht, oder sie seien effektiv, dann müsse man sich trotzdem fragen, ob es auch Instrumente gebe, die weniger stark in die Privatsphäre eingreifen, zitiert die BBC Jennifer Cobbe, Informatikerin an der Universität Cambridge, in einem großen Feature zum Thema. Auch Natali Helberger, Jura-Professorin aus Amsterdam ist skeptisch: „Wir kennen die Nebenwirkungen nicht und wir wissen, Apps alleine sind keine Lösung.“
Abzuwägen ist auch, ob das elektronische Tracing mehr nutzt, als dass es Verwirrung stiftet. Die Anwendungen, die derzeit entwickelt werden, registrieren über Bluetooth, wer sich in wessen Nähe aufgehalten hat. Wird jemand positiv auf das Virus getestet, lässt sich so leichter und schneller identifizieren, wer sich potenziell angesteckt haben könnte. Im Fall Corona heißt das, falscher Alarm und damit verbundene Ängste und Sorgen aller Orten sind wahrscheinlich. Solange die Identifizierten schnell getestet werden können und Entwarnung möglich ist, mag das zu verschmerzen sein. Aber das ist nicht überall gewährleistet. Und es gibt praktische Probleme. Was ist zum Beispiel mit medizinischem Personal, das sich ständig im Umfeld von Kranken und Infizierten bewegt? Für sie wären solche Kontaktmelder sinnlos. Die Welle an Bürokratie und unnützen Tests, die ein Tracking im schlechten Fall nach sich ziehen könnte, wäre gewaltig, von Diskriminierung ganz zu schweigen.
Kommt nun etwa der Zwang zum Smartphone?
Außerdem offenbart sich der digitale Graben hier besonders deutlich. Cathy O’Neill, kritische Mathematikerin und Bestseller-Autorin („Weapons of Math Destruction“), schreibt in einem Kommentar für Bloomberg: „Um etwas zu bewirken, muss die App denjenigen helfen, die am verletzlichsten sind – Menschen, die wegen Merkmalen wie Rasse, Einkommen, Alters oder Beruf überdurchschnittlich gefährdet sind und an dem Virus sterben. Aber viele von ihnen haben keine Smartphones. Sie sind obdachlos, in Pflegeheimen, in Gefängnissen.“ Zumindest in Amerika mit seinem maroden Gesundheitssystem werde die App nicht funktionieren, argumentiert sie, denn viele Menschen ließen sich nicht testen oder behandeln und seien zudem auf riskante Jobs angewiesen. Die Lehre daraus: Tracing Apps sind immer nur so wirksam wie das Gesundheitssystem dahinter. Man kann das noch weiter fassen: Technologie ist immer nur so gut wie die Gesellschaft dahinter.
In einem freiheitlichen Staat kann ohnehin niemand dazu gezwungen werden, stets ein Mobiltelefon bei sich zu tragen – ja noch nicht einmal dazu, eines zu besitzen. Im Fall des Corona-Virus ist das ein besonders gewichtiges Argument. Denn gerade unter den Alten, die ein besonders hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben, ist das Handy – wenn vorhanden – eher Telefon als weiteres Körperteil. Und auch unter den Jüngeren sollte es Menschen geben, die das Gerät daheimlassen, wenn sie nur mal schnell einkaufen oder eine Runde zum Laufen gehen. Ganz abgesehen davon, dass der eine oder die andere das Telefon bewusst zuhause lassen könnte, um der Nachverfolgung zu entgehen. Selbst im vielfach als Vorbild zitierten Singapur hat nur jeder sechste Bürger die App heruntergeladen. Nennenswerte Effekte hat sie aber womöglich nur, wenn sie etwa von 60 Prozent der Bevölkerung genutzt wird, so eine Modellrechnung von Wissenschaftlern veröffentlicht in Science.
Coronakrise als Gegenstand einer Liberalismusdebatte
Um eine Debatte kommt allerdings in der Corona-Pandemie keine Gesellschaft herum: Was bedeutet Freiheit? Das Konzept ist ohnehin angezählt in einer durchdigitalisierten Welt, in der alles mit allem vernetzt und von Algorithmen beeinflusst ist. Bislang ging es aber vor allem darum, Privatsphäre und Bequemlichkeit ins Verhältnis zu setzen. Und schon da halten es die meisten Konsumenten eher mit der Bequemlichkeit: elektronisch bestellen, zahlen, kommunizieren und navigieren – wer verzichtet darauf schon gerne allein für den Gewinn, unbeobachtet zu sein?
Aber was ist, wenn Privatsphäre mit Gesundheit oder gar Leben abgewogen werden muss, womöglich auch „nur“ mit wirtschaftlichem Überleben? Ist die Freiheit, die Technologie da potenziell ermöglichen kann, mit ein paar persönlichen Daten nicht sogar günstig erworben? Solche Fragen haben keine einfachen Antworten. Die Freiheit des einen hört immer dort auf wo die des anderen beginnt, in einer liberalen Gesellschaft müssen die Grenzen demokratisch ausgehandelt werden.
Den Wert der Bürgerrechte kann allerdings oft erst derjenige ermessen, dem sie genommen wurden. Jene chinesischen Ärzte, die früh vor Corona warnten und dafür sanktioniert wurden, hätten gerne mehr davon gehabt. Der Welt wäre das gut bekommen.
Alexandra Borchardt hat sich in ihrem Buch „Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digitalen Welt“ (Gütersloher Verlagshaus, 2018) damit beschäftigt, wie sich Freiheit und Digitalisierung vereinbaren lassen. Die Brisanz des Themas hatte sie sich in dem Ausmaß nicht vorstellen können.
Diese Kolumne erschien zuerst am 20. April 2020 bei Zentrum Liberale Moderne, sie wurde hier aktualisiert.